Ein Buch mit diesem etwas
überraschenden Titel wurde vor einigen Jahren von Sir John
Woodroffe, dem bekannten Gelehrten und Autor von Werken über
tantrische Philosophie, veröffentlicht, um ein extravagantes jeu
d’esprit von William Archer zu beantworten. Dieser bekannte
Theaterkritiker hatte sein gewohntes natürliches Arbeitsfeld
verlassen und sich auf ein Gebiet begeben, auf dem sein Anspruch auf
Kommentar vollendete und kühne Unwissenheit war. Er griff das
gesamte Leben und die Kultur Indiens an und warf die größten
Errungenschaften dieses Landes – Philosophie, Religion, Dichtung,
Malerei, Skulptur, Upanischaden, Mahabharata, Ramayana – in einen
Topf, in dem er sie als abstoßende Masse unsagbarer Barbarei
einhellig verdammte. Damals vertraten viele die Ansicht, auf einen
Kritiker seiner Art zu antworten, hieß es, einen Schmetterling oder
vielleicht in diesem Fall eine Hummel zu rädern. Aber Sir John
Woodroffe vertrat beharrlich den Standpunkt, daß selbst eine Attacke
aus solcher Unwissenheit nicht ignoriert werden dürfe. Er nahm sie
als ein besonders nützliches Beispiel von allgemeiner Art auf,
erstens, weil sie die Frage vom rationalistischen und nicht vom
christlichen und missionarischen Standpunkt aus aufwirft, und
zweitens, weil sie die zugrundeliegenden gröberen Motive all solcher
Attacken aufgedeckt. Sein Buch war jedoch nicht so sehr als Antwort
auf einen bestimmten Kritiker wichtig, sondern weil er mit großer
Schärfe und Kraft die gesamte Frage des Überlebens der indischen
Zivilisation und der Unvermeidbarkeit eines Krieges zwischen den
Kulturen aufwarf.
Die Frage, ob es in Indien eine Zivilisation gab oder gibt, ist
nicht mehr strittig; denn all jene, deren Meinung etwas gilt,
erkennen die Gegenwart einer besonderen und großen Zivilisation, die
ihrem Charakter nach einzigartig ist, an. Sir John Woodroffes
Anliegen war es, den Konflikt zwischen europäischer und asiatischer
Kultur offenzulegen, und mehr als das die besondere Bedeutung und
den besonderen Wert der indischen Zivilisation aufzuzeigen, die
Gefahr, in der sie sich jetzt befindet, und das Unheil, das ihre
Zerstörung für die Welt bedeuten würde. Der Autor hielt ihre
Bewahrung für ungemein wichtig für die Menschheit und war der
Ansicht, sie befinde sich in großer Gefahr. Im Verlaufe der rapiden
Wandlungen, die sich im Gefolge des gegenwärtigen Tornados von
Umstürzen in der Welt ergeben, könnte die Kultur des alten Indien,
attackiert vom europäischen Modernismus, überwältigt im materiellen
Bereich, verraten von der Indifferenz ihrer Kinder, auf immer
Zugrundegehen – zugleich mit der Seele der Nation, die sie in Händen
hält. Das Buch war eine dringende Aufforderung an uns, dieser
heiligen Treuepflicht mehr gerecht zu werden, die nahende Gefahr zu
erkennen, die sie bedroht, und in der Stunde der Prüfung fest und
treu unseren Mann zu stehen. Es dürfte nützlich sein, als Einführung
zu dieser überaus wichtigen Frage knapp den Inhalt des Buches in
seinen wesentlichen Aussagen zusammenzufassen.
Wahre Zufriedenheit in
dieser Welt ist das rechte irdische Ziel des Menschen, und wahre
Zufriedenheit liegt im Entdecken und Bewahren einer natürlichen
Harmonie von Geist, Mental und Körper. Eine Kultur hat ihren Wert in
dem Maße, in dem sie den rechten Schlüssel zu dieser Harmonie
gefunden und die sie ausdrückenden Motive und Bewegungen organisiert
hat. Und eine Zivilisation ist zu beurteilen nach der Art, in der
all ihre Prinzipien, Vorstellungen, Formen, Lebensweisen darauf
hinarbeiten, jene Harmonie zustande zubringen, ihr rhythmisches
Spiel zu lenken und ihr Fortdauern oder die Entwicklung ihrer Motive
sicherzustellen. Eine Zivilisation, die dieses Ziel verfolgt, kann
überwiegend materiell sein wie die moderne europäische Kultur,
überwiegend mental und intellektuell wie die alte
griechisch-römische oder vorwiegend spirituell wie die immer noch
fortdauernde Kultur Indiens. Indiens zentrales Konzept ist das des
Ewigen, des Geistes, der hier in die Materie eingefaßt ist,
involviert und ihr immanent, und sich auf der materiellen Ebene
evolviert durch Wiedergeburt des Individuums, die Stufenleiter des
Seins aufwärts, bis er im mentalen Menschen in die Welt der Ideen
und den Bereich bewußter Sittlichkeit, dharma, eintritt. Diese
Errungenschaft, dieser Sieg über die unbewußte Materie, entwickelt
seine Grundlinien, erweitert seinen Bereich, erhöht seine Ebenen,
bis die wachsende Manifestation des sattwischen oder spirituellen
Teiles des mentalen Mediums das individuelle mentale Wesen im
Menschen in den Stand setzt, sich mit dem reinen spirituellen
Bewußtsein jenseits des Mentals zu identifizieren. Indiens
Gesellschaftssystem ist auf diesem Konzept errichtet. Seine
Philosphies formuliert es. Seine Religion ist ein Aufstreben zum
spirituellen Bewußtsein und Früchten. Seine Kunst und Literatur sind
in Gleicher Weise aufwärts gerichtet. Sein ganzes Dharma oder sein
Daseinsgesetz ist auf ihm begründet. Fortschritt hat seinen Platz in
diesem Konzept, aber es ist der spirituelle Fortschritt, nicht der
äußerliche Selbstentfaltungsprozeß einer immer mehr prosperierenden
und leistungskräftigen materiellen Zivilisation. Die Begründung des
Lebens auf diesem hohen Konzept und der Drang zum Spirituellen und
Ewigen sind es, die den besonderen Wert von Indiens Zivilisation
ausmachen. Und es ist seine Treue – mit welchen menschlichen Mängeln
auch immer – zu diesem höchsten Ideal, die sein Volk zu einer
gesonderten Nation in der Menschenwelt gemacht hat.
Aber es gibt andere Kulturen, die von einem anderen Konzept und
sogar einem entgegengesetzten Motiv geleitet werden. Und durch das
Gesetz des Kampfes, welches das erste Daseinsgesetz im materiellen
Universum ist, geraten verschiedene Kulturen unweigerlich in
Konflikt miteinander. Ein tief-verwurzelter Drang in der Natur
treibt sie zu dem Versuch, sich auszuweiten, die unvereinbaren
Elemente oder Gegensätze zu zerstören, zu assimilieren und zu
ersetzen. Konflikt ist in der Tat nicht das letzte und ideale
Stadium; denn dieses tritt ein, wenn verschiedenartige Kulturen
frei, ohne Haß, Mißverständnis oder Aggression, ja mit einem
fundamentalen Gefühl der Einheit, ihre gesonderten Motive
entwickeln. Aber solange das Prinzip des Kampfes vorherrscht, muß
man sich dem niederen Gesetz stellen; es ist fatal, wenn man sich
mitten in der Schlacht entwaffnet. Die Kultur, die ihre lebendige
Sonderung aufgibt, die Zivilisation, die eine aktive
Selbstverteidigung vernachlässigt, wird verschlungen warden, und die
Nation, die durch sie lebte, wird ihre Seele verlieren und zugrunde
gehen.
Jede Nation ist eine Shakti oder Kraft des evolvierenden Geistes in
der Menschheit und lebt durch das Prinzip, das sie verkörpert.
Indien ist die Bharata Shakti, die lebendige Energie eines großen
spirituellen Konzepts, und Treue zu ihm ist das ureigene
Daseinsprinzip Indiens. Durch dieses Prinzip nur ist es eine der
unsterblichen Nationen. Dies allein war das Geheimnis seiner
erstaunlichen Dauer und seiner ständigen Überlebens- und
Erneuerungskraft.
Das Prinzip des Kampfes erhielt den weiten historischen Aspekt eines
zeitalterlangen Zusammenstoßes und Konfliktdruckes zwischen Asien
und Europa. Dieser Zusammenstoß, dieser wechselseitige Druck hatte
seine materielle Seite, aber wies auch einen kulturellen und
spirituellen Aspekt auf. Sowohl materiell wie spirituell hat Europa
sich wiederholt auf Asien geworfen, Asien ebenfalls Europa, um zu
erobern, zu assimilieren und zu dominieren. Es gab eine ständige
Wechselfolge, ein Vor-und Zugrückfluten dieser beiden Meere von
Macht. Ganz Asien hatte stets die spirituelle Tendenz mit mehr oder
weniger Intensität, mit mehr oder weniger Klarheit; aber in dieser
essentiellen Angelegenheit ist Indien die Quintessenz der
asiatischen Seinsweise. Auch Europa besaß zur Zeit des Mittelalters
eine Kultur, bei der durch das Dominieren des christlichen Gedankens
– das Christentum war jedoch asiatischen Ursprungs – das spirituelle
Motiv die Führung übernahm. Damals gab es eine wesenhafte
Ähnlichkeit ebenso wie einen gewissen Unterschied. Dennoch war die
Differenz kulturellen Temperaments im Ganzen gesehen konstant. Seit
einigen Jahrhunderten ist Europa materiell, raubgierig, aggressiv
geworden und hat die Harmonie des inneren und äußeren Menschen, die
die wahre Bedeutung von Zivilisation und die wirksame Grundbedingung
für wahren Fortschritt ausmacht, verloren. Materieller Komfort,
materieller Fortschritt, materielle Effektivität sind zu den Göttern
geworden, die Europa anbetet. Die moderne europäische Zivilisation,
die in Asien eingedrungen ist und die alle gewaltsamen Angriffe auf
indische ideale repräsentiert, ist die wirkungsvolle Form dieser
materialistischen Kultur. Indien hat, im Einklang mit seinem
spirituellen Motiv, nie an den physischen Angriffen Asiens auf
Europa teilgenommen. Seine Methode war stets Infiltration der Welt
mit seinen Gedanken und Ideen, ein Vorgang, den wie auch heute
wieder beobachten. Aber es ist nun physisch von Europa besetzt, und
diese physische Eroberung muß notwendigerweise mit einem Versuch
kultureller Eroberung in Verbindung gebracht werden. Auch jene
Invasion hat einigen Fortschritt erzielt. Auf der anderen Seite hat
die englische Herrschaft Indien in den Stand gesetzt, seine
Identität und seinen Gesellschaftstypus noch zu bewahren. Sie hat
das Land sich selbst gegenüber erweckt und hat es, bis es sich
seiner Kraft bewußt wurde, gegen die Flut geschützt, die andernfalls
seine Zivilisation ertränkt und zerbrochen hätte. Es ist nun Sache
Indiens, seine Kräfte zurückzugewinnen, seine kulturelle Existenz
gegen den Fremdeinfluss zu verteidigen, den eigenen gesonderten
Geist, sein Wesensprinzip und seine charakteristischen Formen zum
eigenen Heil und zum Gesamtwohl der menschlichen Rasse zu bewahren.
Aber es werden viele Fragen aufgeworfen, so vor allem diese: Ist ein
solcher Geist der Verteidigung und des Angriffs der rechte Geist,
sind Vereinigung, Harmonie, Austausch unser rechtes Temperament für
den kommenden menschlichen Fortschritt? Ist nicht eine vereinigte
Weltkultur der breite Pfad der Zukunft? Kann eine übertrieben
spirituelle oder eine übermäßig weltliche Zivilisation die gesunde
Grundlage für menschlichen Fortschritt oder menschliche
Vollkommenheit sein? Eine glückliche oder gerechte Aussöhnung dürfte
ein besserer Schlüssel zur Harmonie von Geist, Mental und Körper
sein. Und dann haben wir noch die Frage, ob die Formen indischer
Kultur ebenso intakt gehalten bleiben müssen wie der Geist. Die
Antwort des Autors auf diese Fragen findet sich in seinem Gesetz von
der schrittweisen Entfaltung des spirituellen Fortschritts der
Menschheit, ihrem Erfordernis, durch drei aufeinanderfolgende
Stadien voranzuschreiten.
Die erste Stufe ist die
Periode des Konflikts und Wettstreits, die in der Vergangenheit
stets vorherrschte und die Gegenwart der Menschheit immer noch
überschattet. Denn selbst wenn die gröbsten Formen des materiellen
Konflikts abgeschwächt sind, überlebt der Konflikt als solcher
dennoch, und der Kulturkampf tritt mehr in den Vordergrund. Die
zweite Stufe bringt das Stadium des Einvernehmens. Die dritte und
letzte ist gekennzeichnet durch den Geist des Opfers, bei dem sich
jeder, weil alles als das eine Selbst erkannt ist, zum Wohle der
anderen gibt. Die zweite Stufe hat für die meisten noch kaum
begonnen; die dritte gehört einer nicht bestimmbaren Zukunft an.
Einzelne haben die höchste Stufe erreicht. Der vervollkommnte
Sannyasin, der befreite, Mensch, die Seele, die eins geworden ist
mit dem Geist, kennt alles Sein als sich selbst, für ihn sind alle
Selbst-Verteidigung und aller Angriff ohne Nutzen. Denn Wettstreit
gehört nicht zum Gesetz seiner Vision: Opfer und Selbstgabe sind das
Prinzip seines Handelns. Aber kein Volk hat dieses Niveau erreicht,
und einem Gesetz oder Prinzip unfreiwillig oder unwissend zu folgen
oder entgegen der Wahrheit des eigenen Bewusstseins, ist falsch und
selbstzerstörerisch. Wenn man sich töten läßt wie das vom Wolf
angegriffene Lamm, so bringt dies kein Wachstum, wird keine
Entwicklung gefördert, kein spirituelles Verdienst sichergestellt.
Einvernehmen oder Einheit mögen zur angemessenen Zeit kommen, aber
es muß eine tiefere Einheit sein mit freier Differenzierung, nicht
ein Verschlingen des einen durch den anderen oder eine unstimmige
und unharmonische Mischung. Auch kann sie nicht kommen, bevor die
Welt für dieses größeren Dinge bereit ist. Die Waffen niederlegen im
Kriegszustand heißt. Zerstörung einzuladen, und das kann keinem
kompensierenden spirituellen Zweck dienen.
Das Spirituelle und das Weltliche müssen in der Tat vollkommen
harmonisiert werden, denn der Geist wirkt durch das Mental und den
Körper. Aber die rein intellektuelle oder vorwiegend materielle
Kultur der Art, wie Europa sie jetzt bevorzugt, trägt in ihrem
Herzen den Keim des Todes; denn das lebendige Ziel von Kultur ist
die Verwirklichung des Himmelteiches auf Erden. Obwohl Indiens Drang
auf das Ewige gerichtet ist, da dies stets das Höchste, das ganz und
gar Wirkliche ist, bewahrt Indien in seiner eigenen Kultur und
Philosophie noch eine höchste Aussöhnung des Ewigen mit dem
Zeitlichen und braucht sie nicht außerhalb zu suchen. Auf der
Grundlage desselben Prinzips ist die Form der wechselseitigen
Abhängigkeit von Mental, Körper und Geist in gleicher Weise wichtig
wie der reine Geist; denn die Form ist der Rhythmus des Geistes.
Daraus folgt, daß ein Zerbrechen der Form bedeutet, den
Selbstausdruck des Geistes zu schädigen oder ihn zumindest großer
Gefahr auszusetzen. Ein Wechsel der Formen kann und wird erfolgen,
aber die neue Formgebung muß ein neuer Selbstausdruck oder eine neue
Selbstschöpfung sein, die von innen her entwickelt wird. Sie muß den
Stempel des Geistes tragen und sollte nicht servil den
Verkörperungen eine Fremdkultur entliehen sein.
Wo steht Indien nun wirklich in dieser kritischen Stunde der Not,
und in wieweit kann man sagen, daß es noch fest verankert ist in
seinen ewigen Fundamenten? Indien ist bereits weitgehend von
europäischer Kultur in Mitleidenschaft gezogen, und die Gefahr ist
längst nicht vorüber; vielmehr wird sie in der unmittelbaren Zukunft
größer, beharrlicher, bedrängender und gewaltsamer sein. Asien
erlebt seinen Neuaufstieg. Aber diese Tatsache selbst wird den
Versuch intensivieren – und tut dies bereits -, der für das Gesetz
des Wettbewerbs natürlich und legitim ist: den Versuch der
europäischen Zivilisation, Asien zu assimilieren. Denn wenn Indien
kulturell umgewandelt und bezwungen ist, dann wird dies, wenn das
Land wieder in der materiellen Ordnung der Welt zählt, nicht
verbunden sein mit einer drohenden Invasion Europas durch das
asiatische Ideal. Es ist ein Kulturstreit, der noch weiter
kompliziert wird durch eine politische Streitfrage. Asien muß
kulturell zu einer Provinz Europas werden und politisch Teil einer
Europäerviertel, wenn nicht europäischen Einheit sein; andernfalls
könnte Europa kulturell zu einer Provinz Asiens werden, asiatisiert
durch den dominierenden Einfluß wohlhabender, gewaltiger, mächtiger
asiatischer Völker im neuen Weltsystem. Das Motiv von Archers
Attacke ist frank und frei ein politisches Motiv. Der Refrain all
seiner Rede ist, daß der Neuaufbau der Welt in den Formen einer
rationalistischen und materialistischen europäischen Zivilisation
geschehen müsse und deren Richtlinien zu folgen habe. Seinem
Argument nach wird Indien, wenn es an seiner eigenen Zivilisation
festhält, wenn es deren spirituelles Motiv hegt, wenn es bei ihrem
spirituellen Grundprinzip bleibt, sich abheben von dieser hellen,
leuchtenden, rationalistischen Welt als eine lebendige Weigerung,
ein häßlicher Makel. Entweder muß es sein ganzes Wesen
europäisieren, rationalisieren, materialisieren und durch diesen
Wandel Freiheit verdienen, oder aber es muß unterworfen bleiben und
von seinen kulturellen vorgesetzten verwaltet werden: sein Volk von
vielen Millionen religiösen Wilden ist mit fester Hand
niederzuhalten, zu unterweisen und zu zivilisieren von seinen edlen
und erleuchteten, christlich-atheistischen europäischen Wächtern und
Lehrmeistern. Eine groteske Aussage der Form nach, aber in der
Substanz enthält sie den Kern der Sache. Was nun die Attacke
betrifft – die nicht global ist, denn Verständnis und Würdigung der
indischen Kultur sind jetzt mehr verbreitet als zuvor, so erwacht
Indien und verteidigt sich gegen sie, aber nicht genug und nicht mit
jener Beherztheit, klaren Schau und festen Entschlossenheit, die
allein das Land aus der Gefahr befreien könnten. Heute ist diese
nahe. Möge Indien seine Wahl treffen – denn die Wahl muß es jetzt
treffen, zu leben oder zugrunde zugehen.
Man darf die Warnung nicht leicht nehmen; Äußerungen von
europäischen Publizisten und Staatsmännern aus jüngerer Zeit sowie
Bücher und Schriften, die gegen Indian gerichtet sind, und die
Tatsache, daß sie von der Öffentlichkeit westlicher Länder mit
Freude und Begeisterung aufgenommen wurden, weisen auf die Realität
der Gefahr hin. In der Tat entspringt sie als Notwendigkeit der
gegenwärtigen politischen Situation und dem kulturellen Trend der
Menschheit in diesem Augenblick gewaltigen, entscheidenden Wandels.
Wir brauchen dem Autor nicht in allen Ansichten zu folgen, die er in
seinem Buch zum Ausdruck bringt. Ich selbst vermag nicht voll und
ganz seiner Lobpreisung der mittelalterlichen Zivilisation Europas
zu folgen. Dessen Interessen, die Schönheit seiner künstlerischen
Motive, seine tiefen und aufrichtigen spirituellen Impulse sind für
mich überschattet von seiner beträchtlichen Neigung zu Unwissenheit
und Obskurantismus, seiner grausamen Unduldsamkeit, seiner
abstoßenden früh-teutonischen Härte, Brutalität, Wildheit und
Grobheit. Er scheint mir ein wenig zu hart mit der späteren
eurpoäischen Kultur umzugehen. Dieser überwiegend ökonomische
Zivilisationstypus war häßlich genug mit seiner Tendenz zu
utilitaristischem Materialismus, und wir würden einen großen Fehler
begehen, wenn wir diesen nachahmten; und dennoch erhielt er einen
Aufwärtstrend durch einige Ideale, die viel für die Rasse getan
haben. Aber selbst diese sind grob und unvollkommen in ihrer Form
und müssen in ihrer Bedeutung spiritualisiert werden, bevor sie vom
Mental Indiens ganz akzeptiert werden können. Ich denke auch, daß
der Autor die Kraft der indischen Erneuerung ein wenig unterschätzt
hat. Ich meine nicht ihre äußere aktuelle Kraft, denn diese ist sehr
ungenügend, sondern die Unausweichlichkeit ihres Elans, ihrer
spirituellen und potenziellen Kraft. Und er hat ein wenig zu viel
gemacht aus dem Typ des servilen Inders, der dem überaus
unterwürfigen Gedanken Ausdruck zu geben vermag, daß europäische
Institutionen der Standard sind, an dem sich Indiens Bestrebungen
orientieren. Abgesehen von der schnell dahinschwinden Klasse, der
dieser Sprecher angehört, trifft dies jetzt nur in einem einzigen
Bereich zu, dem politischen,- eine sehr wichtige Ausnahme, gewiß,
und eine, die einer Gefahr von gewaltigem Ausmaß das Tor öffnet.
Aber selbst hier deutet sich ein tiefer Geisteswandel an, obgleich
er noch keine bestimmte Form angenommen hat und nun einer neuen
Invasion von furiosem Europenismus entgegentreten muß, der von der
militanten Grobheit des proletarischen Rußland inspiriert wird. Auch
hier mißt er nicht dem wachsenden Vordringen indischen spirituellen
Denkens in Europa und Amerika genügend Bedeutung bei, was Indiens
bezeichnende Antwort auf die europäische Invasion ist. Von dieser
Perspektive her bekommt die ganze Frage einen anderen Aspekt.
Sir John Woodroffe fordert uns zu einer entschlossenen
Selbstverteidigung auf. Aber bloße Verteidigung kann im modernen
Kampf nur in Niederlage enden, und wenn die Schlacht zu schlagen
ist, so ist die einzig gesunde Strategie ein beherzter Angriff, der
eine starke, lebendige und mobile Verteidigung als Grundlage hat;
denn nur durch jene Aggressiv-kraft kann die Defensive selbst
wirksam sein. Warum ist eine gewisse Klasse von Indern, immer noch
in allen Bereichen hypnotisiert von der europäischen Kultur, und
warum sind wir alle immer noch hypnotisiert von ihr im Bereich der
Politik? Weil man ständig alle Kraft, Schöpfung, Aktivität auf
Seiten Europas sah und alle Unbeweglichkeit oder Schwäche einer
statischen kraftlosen Verteidigung auf Seiten Indiens. Doch wo immer
der indische Geist zu reagieren vermochte, mit Energie angreifen und
mit glänzendem Erfolg schaffen konnte, begann der europäische Glanz
sogleich seine hypnotische Kraft zu verlieren. Niemand empfindet
jetzt das Gewicht des religiösen Angriffs von Europa, der zu Beginn
sehr stark war, weil die schöpferischen Aktivitäten der
Hindu-Erneuerung die indische Religion zu einer lebendigen und
wachsenden, einer stabilen, triumphierenden und selbstsicheren Kraft
gemacht haben. Das Siegel wurde diesem Werk durch zwei Ereignisse
aufgeprägt, durch die theosophische Bewegung und den Auftritt Swami
Vivekanandas in Chicago. Beides zeigte die spirituellen Gedanken,
für die Indien steht, nicht mehr in der Defensive, sondern
aggressive eindringend in die materialisierte Mentalität des
Okzidents. Ganz Indien war in seinen ästhetischen Vorstellungen
vulgarisiert und anglisiert durch die englische Erziehung und den
englischen Einfluß, bis die helle und plötzliche Morgenröte der
bengalischen Kunstschule ihre Strahlen weit genug warf, um in Tokio,
London und Paris gesehen zu werden. Dieses bedeutende kulturelle
Ereignis hat bereits eine ästhetische Revolution im Lande
herbeigeführt, bislang in keiner Weise vollständig, aber
unwiderstehlich und der Zukunft gewiß. Dasselbe Phänomen gilt auch
für andere Bereiche. Selbst im Bereich der Politik war dies der
innere Sinn der Strategie der sogenannten Extremisten-Partei in der
Swadeshi-Bewegung; denn es war eine Bewegung, die versuchte, die
frühere scheinbare Unmöglichkeit politischer Schöpfung durch den
indischen Geist nach anderen als imitierten europäischen Mustern
aufzuheben. Wenn diese Bewegung einstweilen fehlschlug nicht
aufgrund einer falschen Inspiration, sondern aufgrund feindlichen
Drucks und der von einer vergangenen Dekadenz verbliebenen
Schwäche-, wenn ihre anfänglichen Schöpfungen zerbrochen wurden oder
dahinsiechten und ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt wurden, so
wird sie doch als Wegweiser auf den Straßen bleiben. Der Versuch
wird notwendigerweise erneuert werden, sobald ein weiteres Tor unter
günstigeren Bedingungen geöffnet wird. Bis jener Versuch erfolgt und
gelingt, bedroht eine ernste Gefahr die Seele Indiens; denn eine
politische Europäisierung würde eine gesellschaftliche Wende
derselben Art nach sich ziehen und kulturellen und spirituellen Tod
in ihrem Gefolge bringen. Der Angriff muß erfolgreich und
schöpferisch sein, wenn die Verteidigung wirksam sein soll. Wir
müssen dieser großen Frage ihre weitere, weltumspannende Bedeutung
geben, wenn wir sie in ihre wahren Perspektiven betrachten wollen.
Das Prinzip des Konflikts und Wettbewerbs beherrscht noch immer die
internationalen Beziehungen und wird dies auch in Zukunft für einige
Zeit tun; denn selbst wenn Krieg in der nahen Zukunft aufgrund eines
bislang noch unwahrscheinlichem glücklichen Geschickes abgeschafft
wird, wird der Konflikt andere Formen annehmen. Gleichzeitig ist
eine gewisse wechselseitige Nähe des Lebens der Menschheit das
augenfälligste Phänomen des Tages. Der (Erste) Weltkrieg hat dies in
grober Weise verdeutlicht; indessen bringt die Nachkriegszeit all
seine Konsequenzen und die Fülle seiner Schwierigkeiten heraus. Dies
ist bislang noch nicht wirkliches Einvernehmen und noch weniger der
Anfang wahrer Einheit sondern nur ein erzwungenes physisches
Einseins, das uns durch die Erfindungen der Naturwissenschaft und
moderne Lebensumstände aufgezwungen wird. Aber dieses physische
Einsein muß notwendigerweise seine mentalen, kulturellen und
psychologischen Ergebnisse zeitigen. Zunächst wird es wahrscheinlich
Konflikte in mancher Richtung eher zuspitzen als entschärfen,
politische und wirtschaftliche Kämpfe vielfacher Art wachsen lassen
und auch einen Kulturkampf beschleunigen. In diesem Bereich mag es
am Ende eine verschlingende Vereinigung und eine Zerstörung aller
anderen Zivilisationen durch einen aggressiven europäischen Typus
herbeiführen. Ob jener Typus eine Wirtschaftsbourgeoisie oder ein
Arbeiter-Materialismus sein wird oder ein rationalistischer
Intellektuellismus, läßt sich nicht leicht voraussagen, aber dies
ist gegenwärtig in der einen oder anderen Form die vorherrschende
Realität. Auf der anderen Seite könnte es zu einem freien
Einvernehmen mit einem tieferen Einseins führen. Aber das Ideal
einer vollständigen Sonderung der Völker, wobei jedes von ihnen
seine streng separierte Kultur entwickelt mit einem Zulassungsverbot
für andere führende Gedanken und Kulturformen von außerhalb, wird
sich wahrscheinlich nicht behaupten, obgleich es eine Zeitlang
verbreitet war und an Kraft gewann. Wenn dies geschehen sollte, so
müsste das ganze Ziel der Vereinigung, das sich in der Natur
vorbereitet, in Stücke zerfallen, eine unwahrscheinliche, obschon
nicht völlig unmögliche Katastrophe. Europa dominiert die Welt, und
es liegt auf der Hand, eine verwestlichte Welt vorauszusagen mit nur
geringfügigen Unterschieden solcher Art, wie sie in einer
europäischen Einheit zulässig wären, die sich der rigorosen
wissenschaftlichen Aufgabe der Entwicklung und Organisation des
materiellen Lebens widmet. Über diese Möglichkeit fällt der Schatten
Indiens.
Sir John Woodroffe zitiert die Behauptung von Professor Lowes
Dickinson, der Gegensatz bestehe nicht so sehr zwischen Asien und
Europa, als vielmehr zwischen Indien und dem Rest der Welt. Diese
Aussage hat etwas Wahres an sich; aber der kulturelle Gegensatz
zwischen Europa und Asien bleibt ein nicht ausgeschalteter Faktor.
Spiritualität ist nicht das Monopol Indiens; wie auch immer sie sich
im Intellektuellismus verbirgt oder hinter anderen verhüllenden
Schleiern verborgen liegt, ist sie doch ein notwendiger Bestandteil
der menschlichen Natur. Aber man muß unterscheiden zwischen einer
Spiritualität, die zum Leitmotiv und zur bestimmenden Kraft sowohl
des inneren als auch des äußeren Lebens gemacht wird, und einer
Spiritualität, die unterdrückt ist, die nur unter Masken
hervortreten darf oder als eine mindere Kraft hereingebracht wird,
wobei ihre Herrschaft zugunsten des Intellekts oder eines
dominierenden materialistischen Vitalismus zurückgewiesen oder
hintangestellt wird. Erstere war der Typus der alten Weisheit, der
zeitweilig in allen zivilisierten Ländern – wortwörtlich, von China
bis Peru – allgemein verbreitet war. Aber alle anderen Nationen
haben sich von ihm entfernt und seine Vorherrschaft vermindert oder
sich ganz von ihm entfernt wie in Europa. Oder sie befinden sich
jetzt, wie in Asien, in Gefahr, ihn zugunsten des vordringenden
ökonomischen, kommerziellen, industriellen, intellektuell
utilitaristischen modernen Typus aufzugeben. Indien allein blieb,
mit welchem Absinken oder welcher Verminderung von Licht und Kraft
auch immer, dem Herzen des spirituellen Motivs tue. Indien allein
leistet immer noch hartnäckigen Widerstand; denn die Türkei, China
und Japan, so sagen seine Kritiker, sind jener Narrheit entwachsen,
was sagen will, sie sind zugleich rationalistisch und
materialistisch geworden. Ganz gleich, was Einzelne oder eine kleine
Gruppe der Bevölkerung getan haben mögen, allein Indien als eine
Nation hat sich bis jetzt geweigert, seine angebetete Gottheit
aufzugeben oder seine Knie zu
beugen vor den starken herrschenden Idolen wie Rationalismus,
Kommerziellismus und Ökonomik, den erfolgreichen ehernen Göttern des
Westens. In Mitleidenschaft gezogen wurde es, aber noch nicht
bezwungen. Mehr als seine tiefere Intelligenz mußte sein
oberflächliches Mental viele westliche Ideen hereinlassen –
Freiheit, Gleichheit, Demokratie und andere – und sie mit seiner
Wahrheit aussöhnen. Aber Indien hat sich bei diesen Gedanken in der
westlichen Form ganz und gar nicht wohlgefühlt, und so versucht es
bereits in seinem Denken, ihnen eine indische Form zu geben, was
unweigerlich eine Wendung zum Spirituellen bedeutet. Der erste
Drang, englische Ideen und englische Kultur nachzuahmen, ist vor
über; aber ein neuer und gefährlicherer hat ihn jüngst abgelöst, der
Drang, kontinental-europäische Kultur im allgemeinen und die grobe
und heftige Wendung des revolutionären Rußland insbesondere
nachzuahmen. Auf der anderen Seite bemerkt man eine deutlich
zunehmende Erneuerung der alten Hindu-Religion und die ungeheure
Tragweite eines spirituellen Erwachens und seiner bedeutsamen
Bewegungen. Diese zwiespältige Situation kann nur zu einem von zwei
Resultaten führen. Entweder wird Indien bis zur Unkenntlichkeit
rationalisiert und industrialisiert, und es wird dann nicht mehr
Indien sein, oder aber es wird zum Führer in einer neuen Weltphase,
durch sein Beispiel und seine kulturelle Infiltration die neuen
Tendenzen des Westens fördern und die menschliche Rasse
spiritualisieren. Das ist die eine radikale und brennende Frage, um
die es geht: Wird das spirituelle Motiv, das Indien repräsentiert,
sich in Europa durchsetzen und dort neue Formen schaffen, die dem
Westen angemessen sind, oder wird europäischer Rationalismus und
Kommerziellismus für immer dem indischen Kulturtypus ein Ende
setzen?
Die Frage, die wir also stellen, sollten, lautet nicht: Ist Indien
zivilisiert? Sie lautet: Soll jenes Motiv, das seine Zivilisation
herangebildet hat, oder aber das alt europäische intellektuelle bzw.
das neu-europäische materialistische Motiv die menschliche Kultur
leiten? Soll die Harmonie des Geistes, des Mentals und des Körpers
sich auf dem groben Gesetz unserer physischen Natur gründen, nur
rationalisiert oder höchstens berührt von einem wirkungslosen
spirituellen Schimmer, oder soll die dominierende Kraft des Geistes
die Führung übernehmen und die geringeren Kräfte von Intellekt,
Mental und Körper zu einer größeren Bemühung um höchste Harmonie,
ein siegreiches, sich stets entwickelndes Gleichgewicht zwingen?
Indien muß sich verteidigen, indem es seine kulturellen Formen
neugestaltet, um mit größerer kraft, Tiefe und Vollkommenheit sein
altes Ideal zum Ausdruck zu bringen. Sein Vorstoß muß die so
befreiten Lichtwellen in prächtigen konzentrischen Kreisen über die
ganz Welt ausbreiten, die es einst, in fernen
Zeitaltern, besaß oder zumindest erleuchtete. Der Eindruck eines
Konflikts muß eine Weile geduldet, werden, solange der Angriff einer
entgegen gerichteten Kultur fortdauert. Aber da dies tatsächlich
mithelfen wird, zu all dem Besten hinzuführen, das das
fortgeschrittene Denken des Okzidents hervorbringt, wird es im
Beginn eines Einvernehmens auf höherer Ebene und einer Vorbereitung
auf Einheit gipfeln.
Sobald die Frage nach der indischen Zivilisation jene größere
Streitfrage eröffnet hat, verliert sie ihre enge Bedeutung und geht
in einem sehr viel weiteren Problem unter: Liegt die Zukunft der
Menschheit in einer Kultur, die sich allein auf Verstand und
Wissenschaft gründet? Ist der Fortschritt des menschlichen Lebens
die Bestrebung eines Mentals, eines kontinuierlichen
Kollektivverstands – zusammengesetzt aus einer sich ständig
wandelnden Summe vergänglicher Einzelner -,der aus der Dunkelheit
des unbewußten materiellen Universums hervortrat und in ihm
herumstolpert auf der Suche nach klarem Licht und einem sicheren
Halt inmitten seiner Schwierigkeiten und Probleme? Und besteht
Zivilisation in der Bemühung des Menschen, jenes Licht und jenen
Halt in einem rationalisierten Wissen und einer rationalisierten
Lebensweise zu finden? Eine systematische Erkenntnis der Mächte,
Kräfte, Möglichkeiten der physischen Natur und der Psychologie des
Menschen als eines mentalen und physischen Wesens ist dann die
einzige wahre Wissenschaft. Eine systematische Anwendung jenes
Wissens zum Zwecke progressive-gesellschaftlicher Effektivität und
Wohlfahrt, was sein kurzes Dasein wirksamer, erträglicher,
komfortabler, glücklicher, besser eingerichtet und reicher
ausgestattet sein lässt mit den Freuden von Mental, Leben und
Körper, ist dann die einzig wahre Lebenskunst. All unsere
Philosophie, all unsere Religion – wenn wir davon ausgehen, daß
Religion noch nicht überwunden und zurückgewiesen wurde – all unsere
Wissenschaft, unser Denken, unsere Kunst, unsere gesellschaftliche
Struktur, unsere Gesetze und Institutionen müssen sich auf diese
Daseinskonzept gründen und diesem einen Ziel und Streben dienen. Das
ist die Formel, die die europäische Zivilisation akzeptiert hat und
um deren Verwirklichung in der einen oder anderen Form sie noch
ringt. Es ist die Formel einer klug mechanisierten Zivilisation als
Grundlage einer rationalen und utilitaristischen Kultur.
Ist nicht die Wahrheit unseres Wesens vielmehr diejenige einer in
der Natur verkörperten Seele, die sich selbst zu erkennen, sich
selbst zu finden, ihr Bewußtsein zu erweitern, zu einer größeren
Daseinsweise zu gelangen sucht, sich im Geiste weiter zu entwickeln
und in das volle Licht der Selbsterkenntnis und eine göttliche
innere Vollkommenheit hineinzuwachsen strebt? Sind nicht Religion,
Philosophie, Wissenschaft, Denken, Kunst. Gesellschaft, ja alles
Leben eben Mittel nur zu diesem Wachstum, Werk zeuge des Geistes,
die zu seinem Dienst zu gebrauchen sind, versehen mit diesem
spirituellen Ziel als ihrer hauptsächlichen oder zumindest
letztlichen Tätigkeit? Dies ist die Vorstellung von Leben und Sein –
das Wissen von ihm, wie geltend gemacht wird -, für die Indien bis
gestern stand und noch weiter zu stehen strebt mit all jenem, was am
beständigsten und kraftvollsten in seiner Natur ist. Es ist die
Formel einer spiritualisierten Zivilisation, die durch
Vervollkommnung, aber auch durch Überschreiten von Mental, Leben und
Körper zu einer hohen Seelen-Kultur strebt.
Ob die zukünftige Hoffnung der Rasse in einer rationalen und einer
klug mechanisierten oder in einer spirituellen, intuitiven und
religiösen Zivilisation und Kultur liegt,- das ist dann die
entscheidende Frage. Wenn der rationalistische Kritiker bestreitet,
daß Indien zivilisiert ist oder je zivilisiert war, wenn er die
Upanischaden, den Vedanta, Buddhismus, Hinduismus,alte indische
Kunst und Dichtung zu einer Masse von Unkultur erklärt, zur
nichtigen Produktion eines beharrlich barbarischen Mentals, so meint
er damit schlicht, daß Zivilisation synonym und identisch sei mit
dem Kult und der Praxis des materialistischen Verstandes und daß
alles, was unter oder über diesem Standard liegt, nicht diesen Namen
verdient. Eine zu metaphysische Philosophie, eine zu religiöse
Religion – wenn nicht überhaupt alle Philosophie und alle Religion –
alles zu idealistische und alles mystische Denken, all mystische
Kunst und jede Art von okkultem Wissen, alles, was verfeinert und in
seinem Forschen hinausgeht über den begrenzten Horizont des
Verstandes, der sich mit dem physischen Universum beschäftigt und
ihm daher bizarre, übermäßig verfeinert, übertrieben, unbegreifbar
erscheint, alles was auf den Sinn des Unendlichen antwortet, alles
was eingenommen ist vom Gedanken des Ewigen – und eine Gesellschaft,
die zu sehr von Gedanken beherrscht wird, die diesen Dingen
entspringen, und nicht allein von intellektueller Klarheit und dem
Streben nach materieller Entwicklung und Effizienz, seine nicht die
Produkte von Zivilisation, sondern der Spross einer subtilen
Barbarei. Aber diese These beweist offenbar zu viel: Der
überwiegende Teil der großen Vergangenheit der Menschheit würde
unter ihr Verdikt fallen. Selbst die alte griechische Kultur würde
ihm nicht entrinnen. Ein großer Teil des Denkens und der Kunst der
modernen europäischen Zivilisation selbst wäre in jenem Fall als
zumindest halbbarbarisch zu verdammen. Ganz offenbar können wir
nicht, ohne der Übertreibung oder dem Widersinn anheimzufallen, den
Sinn des Wortes einengen und die Bedeutung des vergangenen Strebens
der Rasse ihres Inhaltes berauben. Die indische Zivilisation in der
Vergangenheit war und ist anzuerkennen als die Frucht einer großen
Kultur, nicht weniger als die griechisch-römische, die christliche,
die islamische oder die spätere Renaissance Zivilisation Europas.
Aber die Grundfrage bleibt offen; der Disput ist nur auf seine
Kernfrage eingegrenzt. Ein gemäßigterer und scharfsinnigerer
rationalistischer Kritiker würde den Wert der vergangenen
Errungenschaften Indiens eingestehen. Er würde nicht Buddhismus und
Vedanta und alle indische Kunst, Philosophie und gesellschaftliche
Konzepte als barbarisch verdammen, aber er würde immer noch geltend
machen, daß dort für die menschliche Rasse keine heilsame Zukunft
liegt. Der wahre Fortschritt erfolge über den Weg des europäischen
Modernismus, die mächtigen Werke der Naturwissenschaft und das große
moderne Abenteuer der Menschheit, deren Bestrebungen ihr gutes
Fundament nicht in Spekulation und Imagination haben, sondern in
überprüfter und greifbarer wissenschaftlicher Wahrheit, ihren mühsam
vermehrten Schätzen sicherer und fest erprobter wissenschaftlicher
Organisation. Ein indisches Mental, das seinen Idealen treu ist,
würde dagegen behaupten, Verstand und Wissenschaft und andere
Hilfsmittel hätten zwar ihren Platz im menschlichen Streben, aber
die wirkliche Wahrheit gehe über sie hinaus. Das Geheimnis unserer
letzten Vollkommenheit ist tiefer in uns, in den Dingen und in der
Natur zu entdecken; es ist zentral zu suchen in spiritueller
Selbsterkenntnis und Vollkommenheit und in der Begründung des Lebens
auf jener Selbsterkenntnis.
Wenn die Sache so formuliert wird, können wir sogleich sehen, daß
die Kluft zwischen Ost und West, Indien und Europa jetzt sehr viel
weniger tief und unüberbrückbar ist als vor dreißig oder vierzig
Jahren. Der grundlegende Unterschied bleibt weiter bestehen; das
Leben des Westens ist immer noch hauptsächlich beherrscht von dem
rationalistischen Gedanken und einem Hauptinteresse am Materiellen.
Aber auf den Gipfeln des Denkens und immer weiter nach unten hin
vordringend durch Kunst, Dichtung, Musik und allgemeine Literatur
erfolgt ein gewaltiger Wandel. Ein Ausgreifen nach tieferen Dingen,
eine verstärkte Rückkehr zu Forschungsinteressen, die verbannt
worden waren, ein Drang nach höherer, noch unverwirklichter
Erfahrung, eine Zulassung von Gedanken und Vorstellungen, die der
westlichen Mentalität lange fremd waren, können überall beobachtet
werden. Diesen Prozess unterstützte, wie es von ihm unterstützt
wurde, ein gewisses Eindringen indischen und östlichen Denkens und
Einflusses. Hier und da finden wir sogar eine wachsende Anerkennung
des hohen Wertes oder der überlegenen Größe des alten spirituellen
Ideals.
Dieses Einsickern begann in einem sehr frühen Stadium des engen
Kontaktes zwischen dem fernen Osten und Europa, deren unmittelbarer
Anlass die englische Besetzung Indiens war. Aber zunächst war es ein
geringer und oberflächlicher Kontakt, im besten Falle ein
intellektueller Einfluß auf einige höher entwickelte Denker.
Akademisches Interesse oder engagierte Hinwendung von Gelehrten und
Denkern zu Vedanta, Sankhya, Buddhismus, die Bewunderung für die
Tiefsinnigkeit und Weite des indischen philosophischen Idealismus,
der nachhaltige Einfluß der Upanischaden und der Gita auf große
Geister wie Schopenhauer und Emerson und einige geringere Denker,
dies war erste enge Einlass für die Fluten. Der Eindruck war im
besten Falle nicht sehr tief, und der kleine Effekt, den er gehabt
haben mag, wurde unwirksam gemacht, eine Zeitlang sogar aufgehoben
durch den großen Strom des wissenschaftlichen Materialismus, der die
ganze Lebensanschauung des späten 19. Jahrhunderts überflutete.
Aber jetzt sind andere Bewegungen aufgetaucht und haben sich mit
triumphalem Erfolg des Denkens und Lebens bemächtigt. Philosophie
und Denken haben sich in einer scharfen Biegung vom
rationalistischen Materialismus und seinen selbstsicheren
Absolutismen entfernt. Auf der anderen Seite hat der indische
Monismus, als erste Konsequenz der Suche nach einem geweiteten
Denken und einer weiteren Schau des Universums in subtiler, aber
kraftvoller Weise viele Menschen unter seinen Einfluß gebracht, wenn
auch oft in seltsamen Verkleidungen. Auf der anderen Seite
entstanden neue Philosophien, die zwar nicht unmittelbar spirituell,
eher vitalistisch und pragmatisch sind, doch aufgrund ihrer größeren
Subjektivität bereits indischen Denkweisen näherstehen. Die alten
Grenzen wissenschaftlichen Interesses begannen einzubrechen.
Verschiedene Formen psychischer Forschung, neue Ansätze in der
Psychologie und sogar ein Interesse an Psychismus und Okkultismus
sind zunehmend in Mode gekommen und setzen sich trotz der
Bannsprüche orthodoxer Religion und Wissenschaft mehr und durch. Die
Theosophie mit ihren umfassenden Kombinationen von alten und neuen
Glaubenssätzen und ihrer Hinwendung zu alten spirituellen und
psychischen Systemen hat überall Einfluß ausgeübt, der weit über den
Kreis ihrer erklärten Anhänger hinausgeht. Nachdem sie lange Zeit
mit Verleumdung und Spott bekämpft wurde, hat sie viel dazu
beigetragen, den Glauben an Karma, Reinkarnation, andere
Seinsebenen, an die Evolution der verkörperten Seele durch Intellekt
und Psyche Geist zu verbreiten – Gedanken, die die ganze
Lebenseinstellung verändern müssen, wenn sie einmal akzeptiert sind.
Selbst die Naturwissenschaft gelangt ständig zu Schlußfolgerungen,
die bloß auf der physischen Ebene und in ihrer Sprache Wahrheiten
wiederholen, die das alte Indien bereits vom Standpunkt spiritueller
Erkenntnis aus in der Sprache von Veda und Vedanta ausgesprochen
hatte. Jeder dieser Ansätze führt direkt oder in seiner wesentlichen
Bedeutung zu einer größeren Annäherung zwischen dem Geist von Ost
und West und in jenem Ausmaß zu einer Wahrscheinlichkeit besseren
Verstehens indischen Denkens und indischer Ideale.
In einigen Richtungen ist der Einstellungswandel bemerkenswert weit
fort- geschritten und scheint standig zuzunehmen. Sir John Woodroffe
zitiert einen christlichen Missionar, der mit Verwunderung das
Ausmaß sieht, in dem der Hindu-Pantheismus begonnen hat, die
religiösen Vorstellungen von Deutschland, Amerika, ja selbst England
zu durchdringen”, und er betrachtet den Sammeleffekt als drohende
Gefahr für die nächste Generation. Ein anderer Autor, den er
zitiert, geht so weit, daß er alles höchste philosophische Denken
Europas dem früheren Denken der Brahmanen zuschreibt und sogar
erklärt, man würde alle modernen Lösungen zu in tellektuellen
Problemen im Osten vorweggenommen finden. Ein angesehener
französischer Psychologe sagte jüngst einem indischen Besucher,
Indien habe bereits alle Grundlinien und Hauptwahrheiten, den weiten
Grundplan einer echten Psychologie ausgearbeitet, und das einzige,
was Europa nun tun können, sei, sie mit genauen Details und
wissenschaftlichen Belegen zu füllen. Diese Äußerungen sind die
extremen Kennzeichen eines wachsenden Wandels, dessen Trend
unverkennbar ist. Auch ist diese Wendung nicht bloß in Philosophie
und höherem Denken sichtbar. Die europäische Kunst hat sich in
gewissen Richtungen weit von ihren alten Vertäuungen entfernt; sie
entwickelt ein neues Auge und öffnet sich in ihrer eigenen Weise
Motiven, die bislang nur im Osten geschätzt wurden. Östliche Kunst
und Dekoration haben in letzter Zeit weitgehend Anerkennung
gefunden, sie haben einen starken, wenngleich subtilen Ein- fluß
ausgeübt. Die Dichtung hat seit einiger Zeit begonnen, unsicher eine
neue Sprache zu sprechen – man beachte, daß der weltweite Ruhm
tagores vor dreißig Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Oft findet
man die Verse selbst gewöhnlicher Autoren voller Gedanken und
Ausdrücke, die früher wenige Parallelen außerhalb indischer,
buddhistischer und Sufi- Dichter gefunden haben könnten. Und es gibt
einige erste Anzeichen eines ähnlichen Phänomens in der allgemeinen
Literatur. Immer mehr finden die Sucher neuer Wahrheit ihre
spirituelle Heimat in Indien und schulden ihm in großem Meße
Anregung oder erkennen zumindest sein Licht an und setzen sich
seinem Einfluß aus. Wenn diese Entwicklung weiter an Boden gewinnt –
und die Möglichkeit rückläufiger Bewegung ist gering, so wird die
spirituelle und intellektuelle Kluft zwischen Ost und West. wenn
nicht aufgefüllt, so doch zumindest überbrückt werden, und die
Verteidigung indischer Kultur und Ideale wird eine stärkere Position
gewinnen.
Man könnte einwenden: Wenn es diese Gewissheit eines annähernden
Verstehens gibt, welche Notwendigkeit besteht dann für eine
aggressive Verteidigung der indischen Kultur, oder überhaupt für
Verteidigung? Welche Notwendigkeit besteht dann für die Fortsetzung
einer gesonderten indischen Zivilisation in der Zukunft? Ost und
West werden sich von zwei entgegengesetzten Seiten treffen,
ineinander aufgehen und eine gemeinsame Weltkultur im Leben einer
vereinigten Menschheit begründen. Alle früheren oder bestehenden
Formen, Systeme, Variationen werden in diesem neuen Amalgam
verschmelzen und ihre Erfüllung finden. Aber das Problem ist nicht
so einfach, nicht so glatt lösbar. Denn selbst wenn wir davon
ausgehen könnten, daß in einer vereinten Weltkultur keine
spirituelle Notwendigkeit und kein vitales Interesse für besonders
ausgearbeitete Variationen bestehen, sind wir doch noch weit
entfernt von einer solchen Einheit. Die subjektive und spirituelle
Tendenz des fortgeschritteneren modernen Denkens ist noch auf eine
Minderheit beschränkt und hat nur sehr oberflächlich auf die
allgemeine Intelligenz Europas abgefärbt. Zudem ist es nur eine
Bewegung des Denkens; die großen Lebensmotive der europäischen
Zivilisation befinden sich noch am selben Punkt. Es existiert ein
stärkerer Druck gewisser idealistischer Elemente bei der
beabsichtigten Neugestaltung menschlicher Beziehungen, aber sie
haben das Joch der unmittelbaren materialistischen Vergangenheit
noch nicht abgeschüttelt, nicht einmal gelockert. Exakt in diesem
kritischen Augenblick und unter diesen Bedingungen geschieht es, daß
die gesamte Erdbevölkerung, Indien eingeschlossen, sich an einem
Punkt befindet, wo sie in die Spannung und in die Wehen einer
schnellen Umwandlung hineingezwungen wird. Es besteht die Gefahr,
daß der Druck dominierender europäischer Gedanken und Motive, die
Versuchungen der politischen Notwendigkeiten der Stunde und die
Geschwindigkeit des rapiden unumgänglichen Wandels keine Zeit lassen
werden für die Entwicklung gesunden Denkens und spiritueller
Reflexion und daß sie das alte indische kulturelle und
gesellschaftliche System bis zum Zerreißen überspannen werden und
diese historische Zivilisation zerstören, bevor Indien die Zeit
gehabt hat, seinen mentalen Standort und Ausblick wieder in Ordnung
zu bringen und jene Formen zurückzuweisen, umzubilden oder zu
ersetzen, die den Anforderungen der es umgebenden nationalen
Notwendigkeiten nicht mehr gerecht werden, neue eigentümliche Kräfte
und Formen zu bilden, und eine feste Grundlage zu finden für eine
schnelle Evolution im Sinne seines eigenen Geistes und seiner
eigenen Ideale. In diesem könnte ein rationalisiertes und
verweltlichtes Indien, ein brauner Affe Europas, aus dem Chaos
erstehen, ein Indien, das nur einige Elemente seines alten Denkens
behält, um seine Gesamtexistenz zu modifizieren, aber nicht mehr zu
formen und zu lenken. Wie andere Länder würde Indien dann die Form
des westlichen Modernismus angenommen haben; das alte Indien wäre
untergegangen.
Gewisse Leute würden in dieser Eventualität kein großes Unglück,
vielmehr eine höchst wünschenswerte Wende und ein freudiges Ereignis
sehen. Es würde ihrer Ansicht nach bedeuten, daß Indien seine
spirituelle Sonderrolle aufgegeben und den dringend benötigten
intellektuellen und moralischen Wandel durchgemacht hätte, der es
zumindest berechtigen würde, der Gemeinschaft der modernen Nationen
beizutreten und deren Achtung zu finden. Und ein zunehmend
spirituelles und subjektives Element in die neue Völkergemeinschaft
und deren wechselseitige Beziehungen eingebracht werden und
vielleicht ein großer Teil von Indiens eigenem religiösen und
philosophischen Denken von deren Kultur angeeignet würde, brauchte
das Verschwinden seines alten Geistes und persönlichen
Selbstausdrucks keinen absoluten Verlust zu bedeuten. Das alte
Indien wäre dahingegangen wie das alte Griechenland und würde seinen
Beitrag zu einem neuen und weiteren progressiven Leben der
Menschheit hinterlassen. Aber die Aufnahme der griechisch-römischen
Kultur durch die spätere europäische Welt war doch mit erheblichen
Minderungen verbunden, obgleich viele ihrer Elemente noch in einer
größeren und komplexeren Zivilisation überleben. Es kam zu einem
erheblichen Verlust ihrer hohen und klaren intellektuellen Ordnung
zu dem noch verhängnisvolleren Aussterben des alten
Schönheitskultes, und selbst jetzt, nach so vielen Jahrhunderten,
erfolgte keine wahre Neubelebung des verlorengegangenen Geistes. Ein
noch größerer Verlust an den Schätzen der Welt würde aus dem
Verschwinden einer ausgeprägt indischen Zivilisation resultieren,
weil der Unterschied zwischen ihrem Standpunkt und dem des
europäischen Modernismus tiefer, ihr Geist einzigartig und die Fülle
und Vielfalt ihrer tausend Grundlinien innerer Erfahrung ein Erbe
ist, das in seiner tiefen Wahrheit und dynamischen Ordnung noch
immer allein Indien bewahren kann.
Die Tendenz des normalen westlichen Mentals geht dahin, von unten
nach oben und von außen nach innen zu leben. Man schafft sich eine
starke Grundlage in der vitalen und materiellen Natur, und höhere
Kräfte werden nur angerufen und zugelassen, um das natürliche
irdische Leben abzuwandeln und teilweise zu erhöhen. Das innere
Leben wird geformt und regiert von den äußeren Kräften. Indiens
ständiges Bestreben war es dagegen, eine Lebensgrundlage in der
höheren spirituellen Wahrheit zu finden und vom inneren Geist her
nach außen zu leben, den gegenwärtigen Modus von Mental, Leben und
Körper zu überwinden, die äußeren Natur völlig unter Kontrolle zu
bringen. Wie die alten vedischen Seher sagten: Ihre göttliche
Grundlage war oben, selbst während sie unten standen, mögen ihre
Strahlen tief in uns Wurzel fassen. Dieser Unterschied nun ist nicht
eine unbedeutende Feinheit, sondern von großer und tiefgreifenden
praktischer Konsequenz. Und wie Europa mit jeglichem spirituellen
Einfluss umgehen würde, können wir an der Art sehen, in der es mit
dem Christentum und seiner inneren Regel umging, die es nie wirklich
als sein Lebensgesetz akzeptierte: Es wurde zugelassen, aber nur als
ein idealer und emotionaler Einfluß, und nur dafür gebraucht, um die
vitale Aktivität des Teutonen und die intellektuelle Klarheit und
sinnliche Feinheit der Romanen zu mäßigen und ein wenig spirituell
zu färben. Jede neue spirituelle Entwicklung, die Europa
akzeptierte, würde in eben derselben Weise aufgenommen und für einen
ähnlich begrenzten und oberflächlichen Zweck gebraucht werden, falls
es nicht eine standhafte lebendige Kultur in dieser Welt gäbe, um
dieses geringere Ideal herauszufordern und auf dem wahren Leben des
Geistes zu beharren. Es mag wohl stimmen, daß beide Tendenzen, die
mentale, vitale und physsche Konzentration Europas und der
spirituelle und psychische Impuls Indiens, zur Vollständigkeit des
menschlichen Lebens benötigt werden. Aber wenn das spirituelle Ideal
den endgültigen Weg zu einer triumphalen Harmonie manifestierten
Lebens weist, dann ist es für Indien von entscheidender Bedeutung,
daß es die Wahrheit nicht aus dem Griff verliert, nicht das Höchste
aufgibt, das es kennt, uns es nicht verschachert für ein vielleicht
mehr unmittelbar praktikables, aber doch niederes Ideal, das seiner
wahren und bleibenden Art fremd ist. Es ist ebenso wichtig für die
Menschheit, daß eine große Kollektivanstrengung zur Verwirklichung
dieses höchsten Ideals – ganz gleich, wie unvollkommen sie auch
gewesen sein mag – nicht zum Stillstand kommt, sondern fortdauert.
Sie kann immer ihre Kraft zurückgewinnen und ihre Ausdrucksgebung
erweitern; denn der Geist ist nicht an zeitliche Formen gebunden,
sondern ewig neu, unsterblich und unendlich. Eine neue Schöpfung des
alten indischen svardharma, nicht eine Umwandlung in ein Gesetz der
westlichen Natur, ist unser bester Weg, um die Summe menschlichen
Fortschritts zu fördern und zu vermehren. So entsteht die
Notwendigkeit einer Verteidigung, und es sollte eine starke, ja
aggressive Verteidigung sein; denn nur eine aggressive Verteidigung
kann unter den Bedingungen des modernen Kampfes wirksam sein. Aber
hier sehen wir uns einer entgegengesetzten geistigen Einstellung und
ihrem starren, hemmenden Temperament konfrontiert. Denn es gibt
jetzt eine ganze Reihe von Indern, die für eine hartnäckig statische
Verteidigung sind, und alle Aggressivität, die sie in diese
hineinlegen, besteht in einem recht vulgären und gedankenlosen
Kultur-Chauvinismus, der die Ansicht vertritt, daß alles, war wir
haben, gut für uns sei, weil es indisch ist, oder sogar, daß alles,
was in Indiens ist, am besten sei, weil es die Schöpfung der Rishis
ist. Als ob all die späteren schwerfälligen und chaotischen
Entwicklungen von jenen viel missbrauchten, oft fehlinterpretierten
und stark gefälschten Gründern unserer Kultur eingeleitet worden
wären! Aber es ist. fraglich, ob eine statische Verteidigung
irgendeinen effektiven Wert hat. Ich meine, sie hat keinen Wert,
weil sie sich nicht mit der Wahrheit der Dinge im Einklang befindet
und zum Fehlschlag verurteilt ist. Sie läuft auf den Versuch hinaus,
stur still zu sitzen, während die Shakti der Welt auf ihrem Weg
voran eilt – nicht nur die Shakti der Welt, sondern auch die Shakti
in Indien. Es handelt sich um die Entschlossenheit, nur von unserem
vergangenen kulturellen Kapital zu leben, es bis zum letzten Heller
zu strecken, während es in unseren verschwenderischen und
inkompetenten Händen ohnehin schon genug geschrumpft ist; aber von
unserem kapital leben, ohne es für neuen frischen Gewinn zu
investieren, hieße, in Armut und Bankrott zu enden. Die
Vergangenheit ist zu nutzen und auszugeben als bewegliches
Umlauf-Kapital für einen größeren Profit, für Neuerwerb und
Entwicklung der Zukunft. Aber um zu gewinnen, müssen wir freigeben,
müssen wir hergeben, um uns vollständiger zu entwickeln und
reichhaltiger zu leben, - das ist das universale Daseinsgesetz.
Andernfalls wird das Leben in uns stagnieren und an seiner Starrheit
Zugrunde gehen. In solcher Weise vor Erweiterung und Wandel
zurückzuschrecken, ist ebenfalls ein falsches Bekenntnis aus
Unvermögen. Es hieße zu glauben, daß Indiens schöpferische Potenz in
Religion und Philosophie mit Shankara, Ramanuja, Mandhwa und
Chaitanya und im gesellschaftlichen Aufbau mit Raghunandan und
Vidyaranya zu Ende ging. Es hieße, in der Kunst und Dichtung bei
einer unschöpferischen Leere oder einer sinnlosen und lebenslosen
Wiederholung schöner, aber abgegriffener Formen und Motive stehen zu
bleiben. Es hieße, an gesellschaftlichen Formen festzuhalten, die
zerbröckeln und trotz unserer Anstrengungen weiter zerbröckeln
werden und dem Risiko ausgesetzt sind, bei ihrem Zusammenbruch
zermalmt zu werden.
Der Einwand gegen jeden großen Wandel –denn ein großer und mutiger
Wandel ist erforderlich, Kleinkrämerei wird unserem Zweck nicht
dienen – kann nur dann plausibel gemacht werden, wenn er auf der
These beruht, daß die Formen einer Kultur der rechte Rhythmus ihres
Geistes seien und daß wir, wenn wir den Rhythmus unterbrechen, dabei
den Geist vertreiben und die Harmonie für immer auflösen könnten.
Gewiss, aber obgleich der Geist ewig in seiner Essenz ist und
unwandelbar in den Grundprinzipien seiner Harmonie, ist der
tatsächliche Rhythmus seiner Selbstausdruckgebung in der Form immer
wandelbar. Unwandelbar in seinem Wesen und in den Kräften seines
Wesens, aber reichlich wandelbar im Leben, - dies ist exakt die
Natur des manifestierten Daseins des Geistes. Und wir müssen auch in
Betracht ziehen, ob der tatsächliche Rhythmus des Augenblicks noch
eine Harmonie ist, ob er nicht in den Händen eines mäßigen und
unwissenden Orchesters zu einem Missklang geworden ist und den alten
Geist nicht mehr zutreffend oder hinlänglich ausdrückt. Mängel in
der Form anerkennen heißt nicht, den inhärenten Geist zu leugnen; es
ist vielmehr die Grundbedingung, um weiter voranzuschreiten zu einer
größeren zukünftigen Weite, einer vollkommeneren Verwirklichung,
einem glücklicheren Ausströmen der Wahrheit, die wir in uns haben.
Ob wir tatsächlich eine größere Ausdrucksgebung finden werden, als
sie uns die Vergangenheit gab, hängt von uns selbst ab, von unserer
Fähigkeit, auf die ewige Kraft und Weisheit und die Erleuchtung der
Shakti in uns anzusprechen, und von unserem Geschick in Werken,
jenem Geschick, das durch Einheit mit dem ewigen Geist kommt, den
wir im Maße unseres Lichts auszudrücken versuchen: yogah karmasu
kausalam.
Dies ist vom Standpunkt der indischen Kultur aus gesagt, und das muß
für uns stets der erste Gesichtspunkt und wesentliche Standpunkt
sein. Aber es gibt auch den Standpunkt vom Druck des Zeitgeistes auf
uns. Denn auch dies ist das Wirken der universalen Shakti und kann
nicht ignoriert, auf Distanz gehalten oder am Eintritt gehindert
werden. Auch hier drängt sich der Grundsatz neuer Schöpfung als der
wahre und einzig wirksame Weg auf. Selbst wenn es wünschenswert
wäre, still und steif zu stehen in unseren wohl geschützten Toren,
so ist es nicht mehr möglich. Wir können uns nicht länger von der
übrigen Menschheit gesondert halten, isoliert wie eine einsame Insel
im weiten Ozean, indem wir weder selbst voranschreiten noch andere
hereinlassen, - sofern wir überhaupt je einen solchen Status hatten.
Zum Guten oder zum Bösen ist die Welt mit uns; die Flut moderner
Gedanken und Kräfte strömt herein und wird keine Leugnung erlauben.
Es gibt zwei Wege, ihnen entgegenzutreten: entweder einen hilflosen
und hoffnungslosen Widerstand zu leisten oder sie aufzugreifen und
in den Griff zu bringen. Wenn wir nur einen trägen oder hartnäcking
passiven Widerstand bieten, werden sie uns dennoch heimsuchen,
unsere Verteidigung dort nieder brechen, wo sie am schwächsten ist,
sie entkräften, wo sie massiver ist, und wo nichts von beidem getan
werden kann, sich unerkannt und kaum durchschaut von unten durch
Gänge und Tunnel einschleichen. Indem sie unangepaßt eintreten,
werden sie als zersetzende Kräfte wirken, und es wird nur teilweise
durch äußeren Angriff, viel mehr noch durch innere Explosion
geschehen, daß diese alte indische Zivilisation in Stücke zerbricht.
Unheilverkündende Funken beginnen bereits aufzusprühen, und keiner
weiß, wie man sie löscht. Und selbst wenn wir sie löschen könnten,
erginge es uns darum nicht besser, denn wir müßten noch mit der
Quelle fertig werden, von der sie herrühren. Selbst die
hartnäckigsten Verteidiger der Gegenwart im Namen der Vergangenheit
zeigen in all ihren Worten, wie sehr sie von neuen Denkweisen
berührt wurden. Viele, wenn nicht die meisten, rufen
leidenschaftlich, rufen unausweichlich nach Neuerungen in gewissen
Bereichen, nach Wandlungen, die europäisch in Geist und Methode sind
und die, wenn sie einmal ohne radikale Assimilation und Indisierung
zugelassen sind, am Ende die ganze Sozialstruktur zerbrechen werden,
die sie zu verteidigen meinen. Dies entspringt einer gedanklichen
Verwirrung und einem Unvermögen der Kraft. Weil wir nicht in der
Lage sind, in gewissen Bereichen zu denken und zu schaffen, sind wir
gezwungen, ohne Assimilation oder mit einem nur illusorischen
Vorwand der Assimilation zu borgen. Weil wir nicht den vollständigen
Sinn dessen, was wir tun, von einer hohen inneren, beherrschenden
Warte überschauen können, sind wir damit beschäftigt, unvereinbare
Dinge ohne jede heilsame Aussöhnung zusammenzubringen. Es ist
wahrscheinlich, daß unsere Bemühungen in einem langsamen
Verbrennungsvorgang und schneller Explosion enden werden.
Aggressive Verteidigung impliziert eine neue Schöpfung von dieser
inneren und beherrschenden Warte aus, und während sie erfordert, daß
jenes, was wir haben, zu einer ausdrucksvolleren Formkraft gebracht
wird, muß sie auch eine wirksame Assimilation dessen zulassen, was
für unser neues Leben nützlich ist und mit unserem Geist in Harmonie
gebracht werden kann. Schlacht, Schock und Kampf sind für sich
selbst nicht sinnlose Zerstörung; sie sind ein gewalttätiger
Deckmantel für die großen Austausche der Zeit. Selbst der
erfolgreichste Sieger empfängt viel vom Besiegten, und wenn er sich
dieses manchmal auch aneignet, so nimmt es ihn ebenso oft auch
gefangen. Der westliche Angriff ist nicht darauf beschränkt, die
Formen östlicher Kultur niederzubrechen; zur selben Zeit erfolgt
eine um fassende, feine und stille Aneignung von vielem, was im
Osten von Wert ist, für die Bereicherung okzidentaler Kultur. Die
Herrlichkeiten unserer Vergangenheit herauszubringen und so viel von
ihren Schätzen über Europa und Amerika zu verstreuen, wie sie
empfangen werden, wird uns daher nicht helfen. Solche Freigebigkeit
wird unsere kulturellen Angreifer bereichern und stärken, aber für
uns wird es nur den Zweck erfüllen, ein Selbsvertrauen
heranzubilden, das nutzlos und sogar irreführend sein wird, wenn es
nicht in eine Kraft und einen Willen zu größerer Schöpfung gewandelt
wird. Für uns ist es geboten, dem Angriff mit neuen und
kraftvolleren Formationen zu begegnen, die sie nicht nur
zurückwerfen werden, sondern den Krieg sogar in das Land des
Angreifers hineintragen, wo dies möglich ist und der Rasse hilft.
Gleichzeitig müssen wir mit einer starken schöpferischen
Assimilation aufnehmen, was unseren Erfordernissen entspricht und
dem indischen Geist gerecht wird. In gewissen Richtungen, bislang
noch allzu wenigen, haben wir diese beiden Bewegungen begonnen. Bei
anderen haben wir nur eine unkluge Mischung geschaffen, oder wir
übernahmen und übernehmen hastig grobe und unverdaute Anleihen.
Nachahmung, ein primitives und unsystematisches Borgen von den
Instrumenten und Methoden des Angreifers mag zeitweilig nützlich
sein, aber für sich genommen ist es nur eine andere Art und Weise,
der Eroberung nachzugeben. Starre Aneignung genügt nicht;
erfolgreiche Angleichung an den indischen Geist ist der
erforderliche Schritt. Das Problem ist eines von großer
unmittelbarer Schwierigkeit und gewaltigen Ausmaßen, und wir haben
uns noch nicht mit Weisheit und Weitblick daran gemacht. Umso
dringender ist es notwendig, die Situation voll zu erfassen und ihr
mit originellem Denken und einer bewussten Aktion zu begegnen, die
klug und kraftvoll in der Schau und sicher im Ablauf ist. Eine
meisterhafte und hilfreiche Assimilation neuen Materials in einem
ewigen Körper war in der Vergangenheit stets die besondere Kraft des
indischen Genius.
Aber es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, unter dem die uns
gestellte Herausforderung nicht länger eine Frage ist, die grob und
provozierend als Konflikt von Kulturen formuliert ist. Stattdessen
stellt sie sich als ein Problem von tiefer Bedeutung; sie wird zu
einer zum Denken verleiten-den Anregung, die nicht nur unsere
eigene, sondern alle noch bestehenden Zivilisationen betrifft.
Zur kulturellen Frage können wir vom Standpunkt der Vergangenheit
und der Bewertung verschiedener Kulturen als erlangten Beiträgen zum
Wachstum der menschlichen Rasse aus antworten, daß die indische
Zivilisation From und Ausdruck einer Kultur war, die ebenso
bedeutend ist wie jede andere der historischen Zivilisationen der
Menschheit, bedeutend in der Religion, bedeutend in der Philosophie,
in der Naturwissenschaft, bedeutend in vielen Denkdisziplinen, in
der Literatur, Kunst und Dichtung, bedeutend in der Organisation von
Gesellschaft und Politik, bedeutend in Hand- werk, Handel und
Gewerbe. Es gab dunkle Flecken, eindeutige Unvollkommenheiten,
schwere Mängel; welche Zivilisation war schon vollkommen, welche
hatte nicht ihre erheblichen Makel und tiefen Abgründe? Es gab
beträchtliche Lücken, viele Sackgassen, viel unkultivierten oder
schlecht kultivierten Boden; welche Zivilisation war schon frei von
Leerräumen, negativen Aspekten? Aber unsere alte Zivilisation kann
die strengsten Vergleiche mit dem Altertum oder dem Mittelalter
aushalten. Höherreichend, subtiler, vielseitiger, wissbegieriger und
tiefgründiger als die griechische, edler und menschlicher als die
römische, ausgedehnter und spiritueller als die alte ägyptische,
umfassender und ursprünglicher als jede andere asiatische
Zivilisation, intellektueller als die europäische vor dem
achtzehnten Jahrhundert, im Besitze all dessen, was jene hatten, und
mehr als das, war sie die mächtigste, souveränste, stimulierende und
einflussreichste von allen vergangenen menschlichen Kulturen.
Und selbst wenn wir vom
Standpunkt der Gegenwart und dem Fruchtbaren Wirken des progressiven
Zeitgeistes aus urteilen, können wir sagen, daß selbst hier trotz
unseres Niedergangs nicht alles auf der Sollseite ist. Viele Formen
unserer Zivilisation sind untauglich geworden und abgenutzt, andere
benötigen radikalen Wandel und Erneuerung. Aber das kann ebenso gut
für die europäische Kultur gesagt werden; bei all ihrer jüngst
erlangten Fortschrittlichkeit und Gewohnheit schnellerer
Selbstanpassung sind doch große Teile von ihr bereits verrottet und
überaltert. Trotz aller Mängel und trotz des Niedergangs haben der
Geist der indischen Kultur, ihre zentralen Gedanken, ihre besten
Ideale noch immer eine Botschaft für die Menschheit und nicht für
Indien allein. Und wir in Indien sind der Ansicht, daß sie in der
Lage sind, aus sich selbst durch Kontakt mit neuem Erfordernis und
neuem Gedanken ebenso gute und bessere Lösungen der anstehenden
Probleme zu entwickeln als jene, die uns aus zweiter Hand von
westlichen Quellen geboten werden. Aber außer den Vergleichen der
Vergangenheit und den Erfordernissen der Gegenwart gibt es auch
einen Gesichtspunkt der idealen Zukunft. Es gibt die weiteren Ziele,
auf die sich die Menschheit hinbewegt. Die Gegenwart ist nur ein
unreifes Streben nach ihnen, die unmittelbare Zukunft, die wir jetzt
hoffnungsvoll sehen und in der Form herbeizuführen suchen, ist nur
ihr unfertiges vorbereitendes Stadium. Es gibt einen noch
unverwirklichten Standard der Ideen, die für das heutige Bewusstsein
utopische Fiktionen sind, für eine weiter entwickelte Menschheit
jedoch zu Gemeinplätzen ihrer täglichen Umgebung werden können,
vertraute Dinge der Gegenwart, die sie überwinden müssen. Welchen
Stand hat die indische Zivilisation hinsichtlich dieser noch
unverwirklichten Zukunft der Menschheit? Sind ihre Hauptkonzepte und
dominierenden Kräfte Leitlichter oder helfende Kräfte zu dieser
Zukunft hin oder finden sie in sich selbst ein Ende, ohne daß sie
einen Ausblick auf die evolutionären Möglichkeiten der kommenden
Erdzeitalter eröffnen?
Schon der bloße Gedanke des Fortschritts ist für viele eine
Illusion; denn sie glauben, daß die menschliche Rasse sich ständig
in einem Kreis bewegt. Oder es ist gar ihre Ansicht, daß Größe mehr
denn irgendwo in der Vergangenheit zu finden sei und daß unsere
Bewegungslinie eine absteigende Kurve der Entartung ist, ein
Abgleiten nach unten. Aber dies ist eine Illusion, die geschaffen
wird, wenn wir zu sehr auf die Höhepunkte der Vergangenheit schauen
und deren Schatten vergessen, oder wenn wir uns zu sehr auf die
dunklen Räume der Gegenwart konzentrieren und ihre Lichtkräfte und
ihre aussichtsvolleren Zukunftsaspekte vergessen. Sie wird ferner
geschaffen durch fälschliche Ableitung vom Phänomen ungleichmäßigen
Forstschreitens. Denn die Natur vollzieht ihre Evolution im Rhythmus
von Voranschreiten und Zurückgleiten, von Tag und Nacht, Wachen und
Schlaf; es erfolgt ein zeitweiliges Vorantreiben gewisser Resultate
auf Kosten anderer, die nicht minder für Vollkommenheit benötigt
werden, und für das oberflächliche Auge mag selbst in unserem
Voranschreiten ein Zurückfallen sein. Gewiß bewegt sich Fortschritt
nicht sicher in gerader Linie voran wie ein Mensch, der sich des
vertrauten Weges sicher ist, oder wie eine Armee, die ein
unverteidigtes Terrain oder kartographisch gut erfasste, unbesetzte
Räume einnimmt. Menschlicher Fortschritt ist weitgehend ein
Abenteuer durch das Unbekannte, ein
Unbekanntes voller Überraschungen und verblüffender Hindernisse; er
stolpert oft, verfehlt seinen Weg an vielen Punkten, weicht hier, um
dort zu gewinnen, verfolgt seine Schritte häufig zurück, um weiter
voranzukommen. Die Gegenwart schneidet nicht immer gut ab im
Vergleich mit der Vergangenheit; selbst wenn sie in der Masse weiter
vorangeschritten ist, kann sie doch in gewissen Richtungen, die für
unser inneres oder äußeres Wohlergehen wichtig sind, geringerwertig
sein. Aber schließlich und endlich bewegt sich die Erde doch
vorwärts, epursimuove. Selbst im Versagen erfolgt eine Vorbereitung
auf Erfolg: Unsere Nächte bergen in sich das Geheimnis einer
größeren Morgendämmerung. Dies ist eine häufige Erfahrung in unserem
individuellen Fortschritt, aber auch die Kollektivität der Menschen
bewegt sich in sehr ähnlicher Weise. Die Frage ist, wohin gehen wir,
und welches sind die wahren Routen und Häfen unserer Reise?
Die westliche Zivilisation ist stolz auf ihren erfolgreichen
Modernismus. Aber es gibt viele Dinge, die sie in ihrem eifrigen
Streben nach Gewinn verloren hat, und vieles, wonach die Menschen
alter Zeiten strebten, was sie aber nicht einmal zu vollbringen
suchte. Auch gibt es vieles, was sie ganz bewußt – ungeduldig oder
unter Mißachtung ihres eigenen großen Verlustes, der Schädigung
ihrer Lebens, der Unvollkommenheit ihrer eigenen Kultur – abgeworfen
hat. Ein alter Grieche der Zeit von Perikles oder der Philosophen,
der plötzlich in dieses Jahrhundert versetzt würde, würde staunen
über die gewaltigen Errungenschaften des Intellektes und die
Expansion des Bewusstseins, die moderne Vielseitigkeit des
Verstandes und die unerschöpfliche Gewohnheit des Forschens, die
Kraft endloser Verallgemeinerung und präzisen Details. Er würde ohne
Vorbehalt die wunderbare Entwicklung der Wissenschaft und ihre
gigantischen Entdeckungen bewundern, die reiche Kraft, Fülle und
Exaktheit ihrer Instrumente, die wundervollbringende Kraft ihres
erfinderischen Genies. Er wäre mehr überwältigt und verblüfft denn
überrascht und eingenommen vom mächtigen Pulsschlag des modernen
Lebens. Aber gleichzeitig würde er abgestoßen werden von der
schamlosen Masse seiner Hässlichkeit und Rohheit, seines zügellosen
äußeren Utilitarismus, seines vitalistischen Trubels und der
morbiden Übertreibung und Ungesundheit vieler seiner Entwicklungen.
Er würde in him viel schlecht verhüllte Belege für das nicht
verhinderte Überleben des triumphierenden Barbaren sehen. Wenn er
seine Intellektualität und die exakte Anwendung von Denken und
wissenschaftlichem Verstand auf die Lebensmaschinerie anerkannte,
würde er in ihm doch seinen eigenen späteren Versuch klarer und
edler Anwendung der idealen Vernunft auf das Innere Leben von Geist
und Seele vermissen. Er würde herausfinden, daß in dieser
Zivilisation Schönheit zu einem Exoten geworden ist und das
leuchtende ideale Bewusstsein in einigen Bereichen zu einem ist und
das leuchtende ideale Bewusstsein in einigen Bereichen zu einem
entwürdigten und ausgebeuteten Sklaven, in anderen zu einem
vernachlässigten Fremden.
Was die großen spirituellen Sucher der Vergangenheit betrifft, so
würden sie in all dieser gewaltigen Tätigkeit des Intellekts und des
Lebens eine schmerzhafte Leere empfinden. Ein Gefühl seiner Illusion
und Unwirklichkeit würde sie bei jedem Schritt heimsuchen, weil das,
was am größten im Menschen ist und ihn über sich selbst hinaushebt,
vernachlässigt worden war. Die Entdeckung der Gesetze der physischen
Natur würde in ihren Augen nicht den relativen Rückgang – lange Zeit
war es das völlige Aufhören – eines größeren Suchens und Findens
aufwiegen, die Entdeckung der Freiheit des Geistes.
Aber eine unvoreingenommene Schau wird dieses Zeitalter der
Zivilisation eher als ein evolutionäres Stadium betrachten wollen,
als eine unvollkommene, aber doch wichtige Wende des menschlichen
Fortschritts. Man kann dann erkennen, daß große Fortschritte erzielt
wurden, die von äußerstem Wert für letztliche Vollkommenheit sind,
selbst wenn sie für einen hohen Preis erkauft wurden. Wir haben
nicht nur eine größere Verallgemeinerung des Wissens und die
gründlichere Anwendung intellektueller Kraft und Tätigkeit in vielen
Bereichen. Wir haben nicht nur den Fortschritt der Naturwissenschaft
und ihre Nutzung für die Eroberung unserer Umwelt, einen ungeheuren
Apparat von Mitteln, weitreichende Nutzungen, endlose kleine
Annehmlichkeiten, eine unwiderstehliche Maschinerie, eine
unermüdliche Ausbeutung von Kräften. Wir haben auch eine gewisse
Entwicklung mächtiger, wenn nicht hochgesteckter Ideale, und es wird
der Versuch unternommen – wie äußerlich und folglich unvollkommen er
auch sein mag – sie einwirken zu lassen auf die Funktion der
menschlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Viel ist reduziert
oder verloren worden, aber es kann am Ende zurückgewonnen werden,
wenn auch nicht mit Leichtigkeit. Wenn das innere Leben des Menschen
einmal seinen wahren Rhythmus wiedergewonnen hat, wird es erkennen,
daß es an Materialien gewonnen hat, an Fähigkeit zu Plastizität, an
einer neuen Art Tiefe und Weite. Und wir werden die heilsame
Gewohnheit angenommen haben, in vielerlei Hinsicht gründlich zu sein
und aufrichtig bemüht, das äußere Gemeinschaftsleben als
angemessenes Ebenbild unserer höchsten Ideale zu gestalten.
Temporäre Abstriche werden nicht zählen angesichts der größeren
inneren Ausweitung, die wahrscheinlich auf dieses Zeitalter äußerer
Unruhe und nach außen gerichteten Bemühens folgen wird.
Wenn andererseits ein alter
Inder der Zeit der Upanischaden, der buddhistischen Zeit oder des
späteren klassischen Zeitalters in das moderne Indien verpflanzt
würde und jenen größeren Teil seines Lebens bemerkte, der dem
Zeitalter des Verfalls angehört, würde er eine viel mehr
deprimierende Empfindung haben, das Gefühl eines nationalen, eines
kulturellen Debakels, eines Falls von den höchsten Gipfeln auf
entmutigend niedrige Ebenen. Es könnte gut sein, daß er sich dann
fragt, was diese degenerierte Nachwelt denn aus der mächtigen
Zivilisation der Vergangenheit gemacht habe. Er würde sich fragen,
wie sie angesichts all dessen, das sie inspirieren, erheben,
anspornen kann, mehr zu leisten und sich selbst zu übertreffen, in
diese Kraftlosigkeit und Trägheit fallen konnte und wie es dazu kam,
daß sie die hohen Motive indischer Kultur, statt mehr zu vertiefen
und auszuweiten, sich mit hässlichen Zuwüchsen überladen ließ, um
dann dadurch zu rosten, zu verrotten, beinahe zugrunde zugehen. Er
würde sehen, wie sein Volk an Formen, Schalen und Fetzen der
Vergangenheit festhält, aber neun Zehntel ihrer edleren Werte nicht
begreift. Er würde das spirituelle Licht und die Energie der
heroischen Zeitalter der Upanischaden und der philosophischen
Systeme mit der späteren Trägheit oder kleinen und zerstückelten,
fragmentarisch ableitenden Tätigkeit unseres philosophischen Denkens
vergleichen. Im Gefolge der intellektuellen Wissbegierde, der
wissenschaftlichen Entwicklung, der schöpferischen literarischen und
künstlerischen Größe, der noblen Fruchtbarkeit des klassischen
Zeitalters wäre er erstaunt über das Ausmaß einer späteren Dekadenz,
ihre mentale Armut, Unbeweglichkeit, statische Wiederholung, die
vergleichsweise Schwäche schöpferischer Intuition, die lange
Sterilität der Kunst, das Absterben der Wissenschaft. Er würde einen
steilen Abstieg zu Unwissenheit beklagen, ein Versagen des alten
kraftvollen Willens und der tapasya, fast eine Impotenz des Willens.
Anstelle der einfacheren und mehr spirituell vernünftigen Ordnung
alter Zeiten würde er eine verwirrend chaotische, zerrüttete
Organisation der Dinge ohne Mitte und ohne jedes weittragende,
harmonisierende Konzept finden. Er fände keine wahre
Gesellschaftsordnung sondern eine halb eingedämmte, halb
vordringende Fäulnis. Anstelle der großen flexiblen Zivilisation,
die kraftvoll assimilierte und in der Lage war, zehnfach
zurückzuzahlen für das, was sie empfing, träfe er auf eine hilflose
Haltung, mit der man passiv oder nur mit einigen wenigen
wirkungslosen galvanischen Reaktionen die Kräfte der Außenwelt und
den Streßwidriger Umstände ertrug. Er würde erkennen, daß sogar
zeitweilig ein so beträchtlicher Verlust des Glaubens und
Selbstvertrauens eintrat, daß die Intellektuellen der Nation in
Versuchung gerieten, den alten Geist und die alten Ideale zugunsten
einer fremden und importieren Kultur zu verbannen. Er würde gewiß
den Anfang eines Wandels bemerken, aber könnte vielleicht Zweifel
hegen, wie tief er geht und ob er stark genug ist, um zu retten, um
die ganze Nation aus ihrer geliebten Starre und Schwäche zu reißen,
erleuchtet genug, um eine neue, robuste schöpferische Tätigkeit auf
die Schaffung neuer bedeutsamer Formen für den historischen Geist zu
lenken.
Auch hier weist besseres Verstehen mehr auf Zuversicht als auf jene
schiere Verzagtheit, die ein zu hastiger, oberflächlicher Blick
nahelegt. Dieses letzte Zeitalter indischer Geschichte ist ein
Beispiel der ständigen lokalen Folge der Nach selbst auf den
längsten und hellsten Tag in der Evolution der menschlichen Rasse.
Aber es war eine Nacht, die zunächst voller leuchtender
Konstellationen war, und selbst in der finstersten und und
schlimmsten Nacht war es die Dunkelheit von Kalidasas viceya-taraka
prabhata-kalpeva sarvari, Nacht, die auf die Morgendämmerung
vorbereitet, mit einigen gerade erkennbaren Sternen. Selbst während
des Abstiegs ging nicht alles verloren. Es fanden Entwicklungen
statt, die benötigt wurden; es gab spiri-tuelle und andere
Fortschritte von größter Bedeutung für die Zukunft. Und in der
schlimmsten Periode des Niedergangs und Versagens war der Geist in
Indien nicht tot, sondern nur erstarrt, verhüllt und gehemmt. Indem
er jetzt wieder auflebt zu energischer Selbstbefreiung infolge des
Drucks ständig aufrüttelnder Erschütterungen, erkennt er, daß sein
Schlaf Vorbereitung war auf latent vorhandene Möglichkeiten hinter
dem Schleier jenes Schlummers. Wenngleich das hohe spiritualisierts
Mental und die gewaltige Kraft spirituellen Willens, tapasya, die
das alte Indien charakterisierten, weniger sichtbar waren, gab es
erneut Fortschritt in spiritueller Emotion und Sensitivität
gegenüber dem spirituellen Impuls auf den niederen
Bewusstseinsebenen, an dem es vorher mangelte. Architektur,
Literatur, Malerei, Skulptur verloren ihren alten Glanz, ihre Kraft
und Erhabenheit, aber sie riefen andere Kräfte und Motive voll
Feingefühl. Lebendigkeit und Anmut hervor. Es erfolgte ein Abstieg
von den Höhen zu den niederen Ebenen, jedoch ein Abstieg, der auf
dem Weg Schätze ansammeln ließ und für die Fülle spiritueller
Entdeckung und Erfahrung benötigt wurde. Der Niedergang unserer
vergangenen Kultur kann sogar als ein notwendiges Dahinschwinden und
Absterben alter Formen betrachtet werden, um nicht nur einer neuen,
sondern, wenn wir so wollen, größeren und vollkommeneren Schöpfung
Platz zu machen.
Denn schließlich und endlich ist es der Wille im Wesen, der den
Umständen ihren Wert gibt, und oft einen unerwarteten Wert; die
Färbung der scheinbaren Wirklichkeit ist ein irreführender
Indikator. Wenn der Wille in einer Rasse oder Zivilisation auf Tod
gerichtet ist, wenn er festhält an der Mattig-keit der Dekadenz und
dem Laisser-faire des zum Sterben Verurteilten, oder selbst in
kraftvollem Zustand blind auf Neigungen beharrt, die zur Zerstörung
führen, oder wenn er nur die Kräfte toter Zeit schätzt und die
Kräfte der Zukunft von sich weist, wenn er Leben, das war dem Leben,
das sein wird, vorzieht. So wird ihn nichts, werden ihn nicht einmal
üppige Kraft, Mittel und Klugheit, nicht einmal viele Aufrufe zum
Leben und ständig gebotene Gelegenheiten vor dem unvermeidlichen
Zerfall und Zusammenbruch bewahren. Aber wenn ihn ein starker Glaube
an sich selbst und ein robuster Wille zum Leben erfüllt, wenn er
gegenüber den Dingen, die kommen werden, offen ist, willig, sich der
Zukunft und der Dinge, die sie bietet, zu bemächtigen, und stark,
sie gefügig zu machen, wo sie widrig zu sein scheint, so kann er aus
Widerstand und Niederlage die unbezwingbare Kraft zum Sieg ziehen
und sich aus, scheinbarer Hilflosigkeit und Dekadenz in einer
mächtigen Flamme der Erneuerung zum Licht eines herrlicheren Lebens
erheben. Zu einem solchen Aufstieg schickt sich die indische
Zivilisation nun wieder an, wie sie es stets tat in der ewigen Kraft
ihres Geistes.
Die Größe der Ideale der
Vergangenheit ist eine Verheißung größerer Ideale für die Zukunft.
Eine ständige Ausweitung dessen, was hinter vergangener Bemühung und
Begabung stand, ist die eine beständige Rechtfertigung einer
lebendigen Kultur. Aber daraus folgt, daß Zivilisation und Barbarei
Worte von recht relativer Bedeutung sind. Denn vom Standpunkt der
evolutionären Zukunft aus waren die europäische und die indische
Zivilisation in ihrer höchsten Form nur halbe Errungenschaften,
erste Morgendämmerungen, die auf das volle Sonnenlicht, das noch
kommen wird, hinwiesen. Weder Europa noch Indien noch irgendeine
Rasse, irgendein Land oder Kontinent war je voll zivilisiert unter
diesem Gesichtspunkt; niemand hat das volle Geheimnis eines wahren
und vollkommenen menschlichen Lebens erfaßt, niemand hat auch nur
das wenige, das vollbracht werden konnte, mit vollständigem
Verständnis oder einer ganz und gar wachen Aufrichtigkeit zur
Anwendung gebracht. Wenn wir Zivilisation als Harmonie von Geist.
Mental und Körper definieren, wo war dann jene Harmonie vollständig
oder ganz und gar real? Wo gab es nicht deutliche Mängel und
schmerzhafte Disharmonien? Wo wurde des Geheimnis der Harmonie in
all seinen Teilen völlig verstanden oder die vollständige
Lebensmusik zu der herrlichen Behaglichkeit eines befriedigenden,
dauerhaften und ständig wachsenden Einklangs entwickelt? Überall
gibt es deutliche, häßliche, selbst abscheuliche Makel im Leben des
Menschen, und vieles, das wir jetzt mit Gleichmut akzeptieren,
vieles, worauf wir stolz sind, mag eine zukünftige Menschheit sehr
wohl als Barbarei oder zumindest als halb barbarisch und unreif
betrachten. Die Leistungen, die wir als ideal ansehen, wird man
verurteilen als eine selbstgenügsam hingenommene Unvollkommenheit,
als Blindheit gegenüber den eigenen Irrtümern. Die Gedanken und
Ideen, die wir als Erleuchtung preisen, werden als Zwielicht oder
Dunkelheit erscheinen. Nicht nur viele Formen unseres Lebens, die
den Anspruch erheben, von alter Zeit oder gar von Ewigkeit zu sein
(als ob man des von irgendeiner Art von Dingen sagen könnte), werden
versagen und verschwinden. Die subjektiven Formen, die unseren
besten Prinzipien und Idealen gegeben wurden, werden, vielleicht von
der Zukunft bestenfalls verständnisvolle Nachsicht finden. Es gibt
nur wenig, das nicht Ausweitung und Wandel benötigt, sich vielleicht
so sehr wandeln muß, daß man es nicht mehr erkennen kann, oder
akzeptieren muß, in einer neuen Synthese Modifiziert zu werden. Am
Ende mögen die kommenden Zeitalter ähnlich auf das heutige Europa
und auf Asien blicken, wie wir uns wilde Stämme oder primitive
Völker betrachten. Und dieser Blick aus der Zukunft ist, wenn wir
ihn erlangen können, ohne Zweifel der am meisten erleuchtende und
dynamische Standpunkt, von dem aus wir unsere Gegenwart beurteilen
können, aber er hebt nicht unsere relative Anerkennung vergangener
und bestehender Kulturen auf.
Denn diese Vergangenheit und Gegenwart bilden die größeren Stufen
jener Zukunft, und vieles davon wird gerade in dem überleben, was an
ihre Stelle tritt. Hinter unseren unvollkommenen kulturellen
Gestaltungen ist ein permanenter Geist, an dem wir festhalten müssen
und der selbst hiernach permanent bleiben wird; es gibt gewisse
Grundmotive oder essentielle Ideen-Kräfte, die nicht abgeworfen
werden können, weil sie Teil des vitalen Prinzips unseres Wesens und
des Ziels der Natur in uns sind, unser svadharma. Aber diese Motive,
diese Ideen-Kräfte sind, ob für die Nation oder für die Menschheit
als ganze, von geringer Zahl, schlich in ihrem Wesen und zu einer
sich stets wandelnden und fortschreitenden Anwendung fähig. Der Rest
gehört den weniger tief liegenden Schichten unseres Wesens an und
muß sich dem sich wandelnden Druck des Zeitgeistes unterziehen und
seinen progressiven Forderungen gerecht werden. Es gibt diesen
permanenten Geist in den Dingen, und es gibt dieses beständige
svadharma oder Gesetz unserer Natur; aber es gibt auch ein weniger
bindendes System von Gesetzen sukzessiver Ausdruckgebung, - Rhythmen
des Geistes, Formen, Tendenzen, Gewohnheiten der Natur, und diese
machen die Wandlungen der Zeitalter, yugadharma, durch. Die Rasse
muß diesem Doppelprinzip von Permanenz und Mutation gehorchen oder
die Folgen einer Dekadenz und Entartung tragen, die selbst ihr
Lebenszentrum in Mitleidenschaft ziehen könnte.
Sicher müssen wir jede desintegrierende oder schädliche Attacke mit
Entschiedenheit abwehren. Aber es ist viel wichtiger, daß wir uns
die eigene wahre und unabhängige Meinung bezüglich unserer
Leistungen in der Vergangenheit, unserer gegenwärtigen Stellung und
zukünftigen Möglichkeiten bilden, - was wir waren, was wir sind und
was wir sein können. In unserer Vergangenheit müssen wir alles
wahrnehmen, was bedeutend, wesenhaft, inspirierend, kräftigend,
erleuchtend, siegreich und wirksam war. Und darin müssen wir
wiederum erkennen, was dem permanenten, essentiellen Geist und dem
ständigen Gesetz unseres kulturellen Wesens nahe stand, und von ihm
trennen, was nur vorübergehend und von vergänglicher Form war. Denn
nicht alles, was in der Vergangenheit bedeutend war, kann in der
vergangenen Form bewahrt oder auf immer wiederholt werden; neue
Notwendigkeiten, andere Ausblicke warten auf uns. Aber wir müssen
auch erkennen, was fehlerhaft war, schlecht begriffen, unvollkommen
formuliert, was nur den begrenzten Bedürfnissen des Zeitalters oder
ungünstigen Umständen gemäß war. Denn es wäre recht müßig, davon
auszugehen, daß alles in der Vergangenheit – selbst auf ihrem Gipfel
– ganz und gar bewundernswert war und in seiner Art die höchste
vollendete Leistung des menschlichen Mentals und Geistes darstellte.
Dennoch müssen wir einen Vergleich dieser Vergangenheit mit unserer
Gegenwart anstellen und die Ursachen unseres Verfalls verstehen und
das Heilmittel für unsere Mängel und Leiden suchen. Das Gefühl der
Größe unserer Vergangenheit darf nicht zu einer fatal
hypnotisierenden Verlockung zum Nichtstun entarten; es sollte
vielmehr zu erneuter und größerer Leistung anregen. Aber in unserer
Kritik der Gegenwart dürfen wir nicht einseitig sein oder töricht
unparteilich alles verurteilen, was wir sind oder getan haben. Indem
wir uns selbst weder schmeicheln noch unseren Abstieg beschönigen
oder unser eigenes Nest beschmutzen, um den Beifall des Fremden zu
finden, müssen wir unsere tatsächliche Schwäche und ihre Wurzeln zur
Kenntnis nehmen, aber auch unsere Augen mit noch größerer
Aufmerksamkeit auf unsere Elemente der Kraft, unsere unverlierbaren
latenten Möglichkeiten, unsere dynamischen Impulse der
Selbsterneuerung richten.
Ein zweiter Vergleich ist anzustellen zwischen dem Westen und
Indien. In der Vergangenheit Europas und in der Vergangenheit
Indiens können wir unvoreingenommen die Erfolge des Westens
beobachten, die Gaben, die er der Menschheit brachte, aber auch
seine größeren Lücken, augenfälligen Mängel, seine gewaltigen und
gar abscheulichen Sünden und Fehlschläge. Auf die andere Waagschale
müssen wir die Leistungen und Fehlschläge des alten und
mittelalterlichen Indien legen. Hier werden wir sehen, daß es wenig
gibt, um dessen willen wir unseren Kopf vor Europa beugen müssen,
aber vieles, worin wir es deutlich und manchmal unermeßlich
übertreffen. Als nächstes aber müssen wir die Gegenwart des Westens
mit seinem großen Erfolg, seiner Vitalität, seiner beherrschenden
Anmaßung ins Auge fassen. Was bedeutend in ihm war, werden wir
zulassen, aber wir werden auch seine Mängel, Fehltritte und Gefahren
sorgfältig erfassen. Und mit dieser gefährlichen Größe müssen wir
die Gegenwart Indiens vergleichen, seinen Abstieg und dessen
Ursachen, seine Bemühungen um Erneuerung, seine Elemente, die jetzt
und in der Zukunft immer noch seine überragende Größe ausmachen. Wir
wollen all jenes prüfen und zur Kenntnis nehmen, was wir
unvermeidlich vom Westen empfangen müssen, und sehen, wie wir es
unserem eigenen Geist und unseren eigenen Idealen angleichen können.
Aber wir wollen auch prüfen, welche Quellen eigener Kraft in uns
sind, denen wir tiefere, vitalere und frischere Lebensströme
entnehmen können als irgendeiner Sache, die der Westen bieten kann.
Denn dies wird uns mehr helfen als okzidentale Formen und Motive,
weil es natürlicher für uns, ist, stimulierender für unsere
besondere Art, mehr angefüllt mit schöpferischen Ideen, leichter
aufgenommen und vollständiger befolgt in praktischer Durchführung.
Noch weit hilfreicher als
jeder dieser notwendigen Vergleiche wird der Blick nach vorne von
unserer Vergangenheit und Gegenwart aus in Richtung auf das eigene
und nicht irgendein fremdes Ideal der Zukunft sein. Denn unser
evolutionärer Drang zur Zukunft ist es, der unserer Vergangenheit
und Gegenwart ihren wahren Wert und ihre wahre Bedeutung geben wird.
Indiens Wesen, seine Mission, das Werk, das es zu tun hat, seine
Rolle in der Bestimmung der Erde, die besondere Kraft, die es
repräsentiert, ist dort in seiner vergangenen Geschichte
niedergeschrieben und ist der geheime Zweck hinter seinen
gegenwärtigen Leiden und Prüfungen. Eine Neugestaltung der Formen
unseres Geistes wird stattfinden müsse; aber es ist der Geist selbst
hinter vergangenen Formen, den wir herauslösen und bewahren müssen
und dem wir neue starke Gedankeninhalte, Kultur werte, eine neue
Instrumentierung, größere Formen geben müssen. Und solange wir diese
wesentlichen Dinge anerkennen und ihrem Geist treu sind, wird es uns
nicht schaden, wenn wir selbst die drastischsten mentalen oder
physischen Anpassungen und die extremsten kulturellen und
gesellschaftlichen Wandlungen vornehmen. Aber diese Wandlungen
selbst sind im Geist und im Modell Indiens vorzunehmen und keinem
anderen, nicht im Geist Amerikas oder Europas, nicht nach dem Modell
Japans oder Rußlands. Wir müssen die große Kluft erkennen zwischen
dem, was wir sind, und dem, was wir anstreben können oder sollten.
Aber dies sollten wir nicht in einem Geist der Entmutigung oder
Leugnung unserer selbst und der Wahrheit unseres Geistes tun,
sondern um den Fortschritt abzustecken, den wir zu machen haben.
Denn wir müssen seine wahren Grundlinien entdecken und in uns selbst
das Streben und die Inspiration finden, das Feuer und die Kraft, um
sie zu konzipieren und konzipieren und praktisch zu verwirklichen.
Ein ursprünglich Wahrheitssuchendes Denken wird benötigt, wenn wir
diesen Standpunkt einnehmen und einen Schritt in dieser Richtung
unternehmen wollen, eine starke und mutige Intuition, eine nie
versagende spirituelle und intellektuelle Geradheit. Der Mut, unsere
Kultur gegen unwissende okzidentale Kritik zu verteidigen und sie
gegenüber dem gigantischen Druck der Moderne zu halten, kommt an
erster Stelle, aber zugleich muß der Mut vorhanden sein, die
Irrtümer unserer Kultur nicht von irgendeinem europäischen
Standpunkt, sondern von unserer eigenen Perspektive her
einzugestehen. Abgesehen von allen Phänomenen des Niedergangs und
Verfalls sollten wir ohne jedes sophistische Leugnen jene Dinge in
unseren Überzeugungen hinsichtlich Leben und gesellschaftlichen
Institutionen erkennen, die in sich selbst fehlerhaft und zum Teil
auch unhaltbar sind, Dinge, die unser nationales Leben schwächen,
unsere Zivilisation herabwürdigen, unsere Kultur entehren. Ein
flagrantes Beispiel findet sich in der Art, in der wir unsere
Kastenlosen behandeln. Es gibt jene, die dies als unvermeidlichen
Irrtum unter den Umständen der Vergangenheit verteidigen wollen; und
es gibt andere, die geltend machen, es sei die bestmögliche Lösung
gewesen, die zu jener Zeit zur Verfügung stand. Wieder andere wollen
sie rechtfertigen und sie – mit welchen Abwandlungen auch immer –
weiter bestehen lassen als notwendig für unsere soziale Synthese.
Der Vorwand war da, aber er rechtfertigt nicht eine Fortdauer. Die
These ist sehr anfechtbar. Eine Lösung, die mittels Abspaltung ein
Sechstel der Nation zu permanenter Schmach verurteilt, zu ständiger
Verkommenheit, Unreinheit des inneren und äußeren Lebens und einer
brutalen Tierexistenz, anstatt sie aus diesem Zustand zu befreien,
ist keine Lösung, sondern ein Akzeptieren von Schwäche, eine
ständige Wunde am Sozialkörper und seinem kollektiven spirituellen,
intellektuellen, ethischen und materiellen Wohlergehen.
Gesellschaftliche Synthese, die nur dadurch leben kann, daß sie aus
der Herabwürdigung unserer Mitmenschen und Landsleute eine ständige
Regel macht, ist zu Verfall und Unruhe verurteilt und vorbestimmt.
Die üblen Wirkung können eine Zeitlang unterdrückt werden und wirken
dann nur über die subtilere unsichtbare Aktion des karmischen
Gesetzes; aber sobald das Licht der Wahrheit einmal auf diese
dunklen Flecken hereingelassen wird, würde ihr Fortbestehenlassen
bedeuten, daß ein Keim der Zersplitterung bewahrt und unsere Chancen
auf ein letztendliches Überleben zerstört werden.
Weiter müssen wir unsere kulturellen Vorstellungen und unsere
gesellschaftlichen Formen betrachten und prüfen, wo sie ihren alten
Geist oder ihre wirkliche Bedeutung verloren haben. Viele von ihnen
sind jetzt eine Fiktion und befinden sich nicht mehr in Einklang mit
den Ideen, von denen sie ausgehen, und mit den Fakten des Lebens.
Andere reichen nicht mehr für unsere weitere Entwicklung, selbst
wenn sie an sich gut sind oder aber zu ihrer Zeit eine günstige
Wirkung hatten. All diese sind entweder umzuwandeln oder aufzugeben,
und wahre Ideen und bessere Formulierungen sind an ihrer Stelle zu
finden. Die neue Richtung, die wir ihren geben müssen, wird nicht
immer eine Rückkehr zu der alten Bedeutung sein. Die neuen
dynamischen Wahrheiten, die wir zu entdecken haben, brauchen nicht
in der begrenzten Wahrheit eines vergangenen Ideals eingehegt zu
sein. Wir müssen den Suchscheinwerfer des Geistes auf unsere
vergangenen und gegenwärtigen Ideale richten und sehen, ob sie nicht
zu überwinden oder zu erweitern oder auf neue weitere Ideale
abzustimmen sind. Alles, was wir tun oder schaffen, muß mit dem
ständigen Geist Indiens im Einklang stehen, aber so gestaltet, sein,
daß es in einen größeren harmonisierten Rhythmus paßt und plastisch
gegenüber dem Ruf einer lichteren Zukunft ist. Wenn Glaube an uns
selbst und Treue zum Geist unserer Kultur die ersten
Grunderfordernisse für ein kontinuierliches und kraftvolles Leben
sind, so ist eine Anerkennung größerer Möglichkeiten eine nicht
minder unerlässliche Bedingung. Gesundes und siegreiches Überleben
kann nicht stattfinden, wenn wir aus der Vergangenheit einen Fetisch
machen anstelle eines inspirierenden Impulses.
Der Geist und die Ideale unserer Zivilisation benötigen keine
Verteidigung, denn in ihren besten Teilen und in ihrer Essenz waren
sie von ewigem Wert. Indiens innere und individuelle Suche nach
ihnen war ernsthaft, kraftvoll, effektiv. Aber die Anwendung im
gesellschaftlichen Leben war großen Einschränkungen unterworfen. Sie
war nie kühn und tief genug und wurde dann immer mehr eingeschränkt
und stockend, als die Lebenskraft in den Menschen nachließ. Dieser
Mangel, diese Kluft zwischen Ideal und kollektiver Praxis war ein
Manko allen menschlichen Lebens und nicht eine Besonderheit Indiens;
aber die Dissonanz bildete sich im Laufe der Zeit deutlich heraus
und drückte zumindest unserer Gesellschaft zunehmend den Stempel der
Schwäche und des Versagens auf. Zu Beginn wurde eine beträchtliche
Anstrengung unternommen, eine Art Synthese zwischen dem inneren
Ideal und dem äußeren Leben zu entwickeln; aber eine statische
Regulierung der Gesellschaft war ihr späteres Ende. Ein
grundlegendes Prinzip von spirituellem Idealismus, eine schwer zu
fassende Einheit und festgelegte hilfreiche Formen der
Gegenseitigkeit blieben stets bestehen, aber auch ein wachsendes
Element strikter Gebundenheit und kleinlicher Unterteilung und
daraus resultierender Verworrenheit in der gesellschaftlichen Masse.
Die großen vedantischen Ideale der Freiheit, Einheit und der
Gottheit im Menschen waren der inneren spirituellen Anstrengung von
Einzelnen über- lassen. Die Kraft zur Ausweitung und Assimilation
nahm ab, und als mächtige und aggressive Kräfte von außen
einbrachen, vom Islam, von Europa, gab sich die spätere
Hindu-Gesellschaft zufrieden mit einer eingegrenzten und statischen
Selbsterhaltung, der bloßen Erlaubnis zu leben. Die Lebensform wurde
enger und enger, und ihr alter Geist konnte sich immer weniger
behaupten. Fortdauer und Überleben wurden erreicht, aber es war am
Ende nicht eine wirklich sichere und vitale Fortdauer, kein großes,
robustes und siegreiches Überleben. Und jetzt ist das Überleben
selber unmöglich geworden ohne Expansion. Wenn wir überhaupt leben
wollen, müssen wir neu anknüpfen an Indiens große unterbrochene
Anstrengung. Im Einzelnen und in der Gesellschaft, im spirituellen
und weltlichen Leben, in der Philosophie und in der Religion, in
Kunst und Literatur, im Denken, in politischer, wirtschaftlicher und
sozialer Gestaltung müssen wir den vollen und uneingeschränkten Sinn
seines höchsten Geistes und Wissens unerschrocken aufgreifen und
gründlich verwirklichen. Und wenn wir dies tun, werden wir
entdecken, daß das Beste von dem, was in westlichen Formen zu uns
kommt, bereits in unserer eigenen alten Weisheit enthalten ist und
dort einen größeren Geist hinter sich hat, eine tiefere Wahrheit und
Selbsterkenntnis und die Fähigkeit eines Willens zu edleren und
idealeren Strukturen. Nur müssen wir uns gründlich im Leben
erarbeiten, was wir im Geist bereits immer wussten. Dort und
nirgendwo anders liegt das Geheimnis der erforderlichen Harmonie
zwischen der wesenhaften Bedeutung unserer vergangenen Kultur und
den umweltlichen Anforderungen unserer Zukunft.
Diese Schau eröffnet eine Aussicht jenseits der Schlacht der
Kulturen, dem unmittelbaren gefährlichen Aspekt der Begegnung Ost
und West. Der Geist im Menschen hat in der gesamten Menschheit nur
ein Ziel von Augen; aber die verschiedenen Kontinente oder Völker
wenden sich ihm von verschiedenen Seiten, mit verschiedenen
Formulierungen und in einem verschiedenen Geist zu. Indem sie die
grundlegende Einheit des letztlichen göttlichen Motives nicht
erkennen, liefern sie einander die Schlacht und erheben den
Anspruch, ihr Weg allein sei der wahre Weg für die Menschheit. Die
eine wirkliche und vollkommene Zivilisation sei jene, in der sie
zufällig geboren wurden, der Rest müsse zugrunde gehen oder
verschwinden. Aber die wirkliche und vollkommene Zivilisation wartet
noch auf ihre Entdeckung; denn das Leben der Menschheit ist immer
noch neun Zehntel Barbarei gegenüber einem Zehntel Kultur. Der
europäische Geist räumt den ersten Rang dem Prinzip des Wachstums
durch Kampf ein; durch Kampf erlangt er eine Art Einvernehmen. Aber
dieses Einvernehmen ist für sich selbst kaum mehr al seine
Organisation für Wachstum durch Wettbewerb, Aggression und weiteren
Kampf. Es ist ein Frieden, der ständig zersplittert – sogar in sich
selbst – in erneuten Wettbewerb von Prinzipien, Ideen, Interessen,
Rassen, Klassen. Es ist eine Organisation mit einer unsicheren Basis
und einem unsicheren Zentrum, weil sie sich auf Halbwahrheiten
gründet, die zu vollständigen Lügen entarten; aber sie ist noch,
oder war bis jetzt, zu ständiger großer Leistung fähig und in der
Lage, mächtig zu wachsen und zu verarbeiten und zu assimilieren. Die
indische Kultur funktionierte auf dem Prinzip eines Einvernehmens,
das seine Basis in einer Einheit zu finden suchte und wiederum ein
größeres Einssein anstrebte. Ihr Ziel war ein dauerhafte
Organisation, die das Prinzip des Kampfes auf ein Minimum reduzieren
oder gar ganz ausschalten würde. Aber am Ende verhielt es sich so,
daß sie Frieden und stabile Ordnung durch Ausschluss, Fragmentierung
und Unveränderlichkeit des Status quo erreichte; sie zog einen
magischen Sicherheitskreis und schloß sich endgültig in ihm ein.
Schließlich verlor sie ihre Kraft zur Aggression, schwächte ihr
Vermögen zur Assimilation und verkam in ihren eigenen Schranken. Ein
statisches, eingeschränktes Einvernehmen, das sich nicht ständig
erweitert, nicht formbar ist, wird in unserem Zustand menschlicher
Unvollkommenheit zu einem Gefängnis oder einer Schlafkammer.
Einvernehmen kann nur unvollkommen und provisorisch in seiner Form
sein und kann nur dann seine Vitalität bewahren und sein letztes
Ziel erfüllen, wenn es sich ständig um stellt, ausweitet,
voranschreitet. Seine geringeren Einheiten müssen sich ausweiten zu
einem breiteren, umfassenderen und vor allem einem mehr realen und
spirituellen Einssein. In der größeren Gestaltung unserer Kultur und
Zivilisation, die wir jetzt vollbringen müssen, wird eine größere
äußere Ausdrucksgebung spiritueller und psychologischer Einheit
sicher ein Leit-Motiv sein, jedoch von einer Vielfalt, die die
mechanische Methode Europas nicht duldet. Ein Einvernehmen, eine
Einheit mit dem übrigen Teil der Menschheit, wobei wir unsere
spirituelle und unsere äußere Unabhängigkeit erhalten werden, wird
eine andere Grundrichtung unserer Anstrengung sein. Aber was jetzt
als Kampf erscheint, kann sehr wohl der erste notwendige Schritt
sein, bevor wir jene Einheit der Menschheit gestalten können, die
der Westen nur der Idee nach konzipiert, aber nicht vollbringen
kann, weil er nicht ihren Geist besitzt. Daher müht sich Europa,
Einheit durch die Abstimmung widerstreitender Interessen und die
Kraft mechanischer Institutionen zu begründen, aber wenn man es auf
diese Weise versucht, wird sie entweder gar nicht oder aber auf Sand
errichtet werden. Indessen will Europa jede andere Kultur
auslöschen, als ob seine eigene die einzige Wahrheit, die ganze
Wahrheit des Lebens wäre und es nicht so etwas wie Wahrheit des
Geistes gäbe. Indien, alter Eigentümer der Wahrheit des Geistes, muß
sich jenem arroganten Anspruch und Angriff widersetzen und trotz
schwieriger Umstände gegen alle jeden seine eigenen tieferen
Wahrheiten bekräftigen. Denn in der Bewahrung und Erhaltung der
Wahrheit des Geistes liegt die einzige Hoffnung begründet, daß die
Menschheit, anstatt auf eine Katastrophe und eine primitiven Anfang
unter ständiger Wiederholung der alten blinden Zyklen zuzugehen,
endlich ins Licht eintreten wird und den Schritt nach vorne nimmt,
der die irdische Evolution auf die nächste Stufe des Aufstiegs in
der fortschreitenden Offenbarung des Geistes bringen wird.
Ein rationalistischer
Kritiker zur indischen Kultur
Wenn wir eine Kultur einzuschätzen versuchen und es sich dabei um
diejenige Kultur handelt, in der wir groß geworden sind oder der wir
unsere Leitbilder entnehmen und deren Mängel wir aus übermäßiger
Parteilichkeit leicht verkleinern oder von der wir aufgrund
übermäßiger Vertrautheit Aspekte und Werte übersehen, die dem
ungewohnten Auge auffallen würden, so ist es stets nützlich und
interessant zu wissen, wie andere sie betrachten. Das muß uns nicht
veranlassen, unseren eigenen Standpunkt zugunsten des ihrigen zu
ändern; doch können wir einer Studie dieser Art neue Einsichten
entnehmen und unserer Selbsterkenntnis aufhelfen. Aber es gibt
verschiedenen Arten, eine fremde Zivilisation und Kultur zu
betrachten. Es gibt das Auge, das mit Sympathie, Intuition und eng
vertrauter, anerkennender Selbstidentifizierung betrachtet: das
bieten uns Werke wie Schwester Niveditas Web of Indian Life oder
Fieldings Buch über Burma oder Sir John Woodroffes Studien über
Tantra. Dies sind Versuche, alle verhüllenden Schleier wegzunehmen
und die Seele eines Volkes zu offenbaren. Es ist gut möglich, daß
uns nicht alle harten äußeren Fakten mitteilen, aber wir werden über
etwas Tieferes belehrt, das eine größere Wirklichkeit besitzt; wir
bekommen nicht die Sache, so wie sie sich in den Unvollkommenheiten
des Lebens ausnimmt, sondern ihre ideale Bedeutung. Die Seele, der
wesenhafte Geist, ist das eine, die Formen, die in dieser
schwierigen menschlichen Realität angenommen wurden, sind das
andere, und sie sind oft unvollkommen und entstellt. Keines von
beiden darf vernachlässigt werden, wenn wir eine Schau des Ganzen
anstreben. Denn gibt es das Auge des scharfsinnigen und
unvoreingenommenen Kritikers, der versucht, die Sache ihrer
Intention und Wirklichkeit nach zu sehen, Licht und Schatten zu
verteilen, Gutes und Schlechtes, Erfolg und Versagen abzuwägen, und
jenes, was anerkennende Sympathie erweckt, abzusondern von dem, was
kritischen Tadel erfordert. Wir mögen vielleicht nicht immer
zustimmen; der Standpunkt ist verschieden, und aufgrund seiner
Äußerlichkeit, bei Versagen von Intuition und Selbstidentifizierung,
können ihm Dinge entgehen, die von wesentlicher Bedeutung sind, oder
er erfaßt vielleicht nicht die volle Bedeutung dessen, was er lobt
oder verurteilt:
dennoch ziehen wir Nutzen daraus, wir können unser Gefühl für
Schattierung und Tönung bereichern oder unser vorheriges Urteil
korrigieren. Schließlich gibt es noch das Auge des feindseligen
Kritikers, der von der Unterlegenheit der in Frage stehenden Kultur
überzeugt ist und der schlicht und ehrlich, ohne bewusste
Übertreibung, das vorbringt, was er als gesunde Grundlage für sein
Urteil ansieht. Auch dies hat seinen Nutzen für uns; feindselige
Kritik dieser Art ist gut für die Seele und den Intellekt,
vorausgesetzt wir lassen uns nicht in Mitleidenschaft ziehen,
niederdrücken oder herunter zerren vom Basiszentrum unseres
lebendigen Glaubens und Handelns. Die meisten Dinge in unserer
Menschenwelt sind unvollkommen, und es ist manchmal heilsam, wenn
man uns unsere Unvollkommenheiten rigoros vorhält. Zumindest können
wir lernen, entgegengesetzte Stand-punkte zu würdigen, und an die
Quelle des Widerstandes gelangen; Weisheit, innere Schau und
Sympathie wachsen durch solche Vergleiche.
Wenn feindselige Kritik aber den Wert des Heilsamen haben soll, so
muß es Kritik sein, nicht Verleumdung, falsches Zeugnis oder bissige
Worte. Sie muß die Tatsachen anführen, ohne sie zu entstellen,
gleiche Maßstäbe in der Beurteilung anlagen, eine gewisse Bemühung
um Gerechtigkeit und gesunden Menschenverstand zeigen sowie Maß
halten. William Archers bekanntes Buch über Indien, das ich gerade
aufgrund seiner Mängel als Typus der charakteristisch westlichen
oder anti-indischen Betrachtungsweise unserer Kultur gewählt habe,
war sicherlich nicht von dieser Art. Wir finden hier nicht nur
totale und unerbittliche Verurteilung, ein Bild, das ganz Schatten
ohne Licht ist. Dies ist eine Empfehlung, denn Archers offen
eingestandenes Ziel war es, die begeisterte Heiligsprechung der
indischen Kultur durch ihre Bewunderer nach Art des advocatus
diaboli herauszufordern. Dessen Aufgabe ist es, alles, was gegen den
Anspruch gesagt werden kann, herauszufinden und höchst wortkräftig
festzustellen. Auch für uns es nützlich, wenn einer Attacke
konfrontiert werden, die das gesamte Feld abdeckt, so daß wir mit
einem einzigen umfassenden Blick die ganze Feindposition gegenüber
unserer Kultur erkennen können. Aber es gibt in seiner Aussage drei
entstellende Elemente. Erstens hatte sie ein verstecktes, ein
politisches Ziel: Sie begann mit dem Grundgedanken, es müsse
bewiesen werden, daß Indien ganz und gar barbarisch sie, um dadurch
dessen Anspruch auf Selbstverwaltung zunichte zu machen oder zu
schwächen. Diese Art sachfremder Motivation macht sein ganzes
Plädoyer sogleich unannehmbar; denn es bedeutet ständige bewusste
Entstellung, um einem materiellen Interesse zu dienen, das den
intellektuellen Zielen und der Unvoreingenommenheit in
Kulturvergleich und Kulturkritik ganz und gar wesensfremd ist.
Tatsächlich bietet dieses Buch keine Kritik; es ist literarischer
oder vielmehr journalistischer Boxkampf. Auch hier ist es ein Kampf
besonderer Art; es ist ein furioser Trainigskampf gegen die
Gliederpuppe Indien, die mittels eines langen und überschwenglichen
Tanzes der Fehlaussage und Übertreibung nach Belieben
niedergeschlagen wird in der Hoffnung, ein unwissendes Publikum zu
überzeugen, der Darsteller habe einen lebendigen Widerpart
niedergestreckt. Gesunder Menschverstand, Gerechtigkeit und Maß sind
Dinge, die absolut nicht gefragt sind. Eine Show scheinbar
phantastischer und unmiderstehlicher Schläge ist das angestrebte
Ziel, und für diesen Zweck erweist sich jeder Kniff als nützlich.
Die Fakten sind völlig falsch präsentiert oder schwerfällig
karikiert, Gedanken, die höchst fernlie- gend und unbegründet sind,
werden mit dem Gebaren der Offensichtlichkeit vorgebracht, und
höchst unlogische Widersprüchlichkeiten zugelassen, wenn ein
scheinbarer Punkt gewonnen werden kann. All dies ist nicht die
gelegentliche Spielerei eines gut informierten Kritikers, der unter
einem Anfall von mentalem Trübsinn leidet und sich getrieben fühlt,
sie mittels einer extravaganten intellektuellen Übung abzureagieren,
eine unverantwortliche Phantasie oder ein feindlicher Kriegstanz um
ein Thema, dem gegenüber er keins Sympathie empfindet. Jenes ist
eine Art Extravaganz, die manchmal zulässig ist, interessant und
amüsant sein kann. Es ist angenehm und lieblich, erklärt der
römische Dichter, den Narren am rechten Ort und zur rechten Zeit zu
spielen, dulce est desipere in loco. Aber Archers ständige Ausflüge
in die irrationale Extravaganz sich keinem Fall in loco. Wir
entdecken sehr bald – zusätzlich zu seinem illegitimen Motiv und
seiner bewussten Unredlichkeit ist dies ein dritter und
entscheidender Mangel -, daß er zum größten Teil absolute nichts von
den Dingen wußte, über die er seine selbstsicheren Aburteilungen
aussprach. Was er tat, war dies: Er sammelte in seinem Bewußtsein
alle unvorteilhaften Kommentare, die er über Indien gelesen hatte,
ergänzte sie mit beiläufigen eigenen Eindrücken und legte diese
unheilsame und substanzlose Mischung als sein Eigenprodukt vor,
obgleich sein einziger echter und persönlicher Beitrag die frohe
Selbst-Überzeugung seiner Meinungen aus zweiter Hand ist. Das Buch
ist journalistischer Betrug, nicht ehrliche Kritik.
Der Autor war offenbar keine Autorität in Metaphysik, die er als
Mißbrauch des menschlichen Mentals verachtet. Und doch formuliert er
ausführlich ein Gesetz von den Werten indischer Philosophie. Er war
ein Rationalist, für den Religion ein Irrtum ist, eine psychische
Krankheit, eine Sünde gegen die Vernunft; und doch urteilt er hier
vergleichsweise zwischen den Ansprüchen von Religionen und weist dem
Christentum ein proxime accessit zu, hauptsächlich deshalb, so
scheint es, weil Christen nicht ernsthaft an ihre eigene Religion
glauben – möge der Leser nicht lachen, das Buch führt in vollem
Ernst diesen erstaunlichen Grund an – und verweist den Hinduismus
ins Hinterfeld. Er gesteht ein, nicht competent zu sein, über Musik
zu schreiben, und doch hielt ihn dies nicht davon ab, der indischen
Musik den Rang hoffnungsloser Mäßigkeit zuzuordnen. Sein Urteil über
Kunst und Architektur ist äußerst beschränkt; aber er geht sehr
großzügig mit seinen unbeirrbaren Aburteilungen um. Bei Drama und
Literatur würde man bessere Dinge von ihm erwarten; aber die
erstaunliche Oberflächlichkeit seiner Wertmaßstäbe und seiner
Argumente läßt einem im Zweifel, wie in aller Welt er denn seinen
Ruf als Theater-und Literaturkritiker erwarb: Man gelangt zu dem
Schluss, daß er entweder beim Umgang mit europäischer Literatur eine
ganz andere Methode angewandt hat oder aber daß es sehr leicht ist,
eine Reputation dieser Art in England zu erwerben. Schlechte
Information durch Fehldarstellung von Fakten, Sorglosigkeit und
Unbesonnenheit im Urteil über Dinge, die er gar nicht studiert hat,
machen den Anspruch dieses Kritikers aus, über indische Kultur zu
schreiben und sie autoritativ als Masse von Barbarei abzuurteilen.
Wenn ich mich also mit William Archer auseinandersetze, sonst
geschieht es nicht, weil es sich um die gut informierte Sicht eines
Außenstehenden oder auch nur eine lehrreiche feindselige Kritik an
der indischen Zivilisation handelt. Letztendlich können nur
diejenigen, die eine Kultur besitzen, den ureigenen Wert ihrer
Schöpfungen beurteilen, weil sie allein ganz in den Geist dieser
Kultur eindringen können. Vom außenstehenden Kritiker können wir nur
Hilfe zur Bildung eines vergleichenden Urteils erwarten,- was
ebenfalls unerlässlich ist. Aber wenn wir aus irgendeinem Grund vom
Urteil eines Außenstehenden abhingen, um uns eine definitive Meinung
über diese Dinge zu bilden, so leuchtet ein, daß wir uns in jedem
Bereich Personen zuwenden müssen, die mit einiger Autorität sprechen
können. Für mich zählt kaum; was Mr. Archer oder Dr. Gough oder der
namentlich nicht genannte englische Professor von Sir John Woodroffe
über indische Philosophie sagen; für mich genügt zu wissen, was
Emerson, Schopenhauer oder Nietzsche, drei ganz verschiedene
Denker-Persönlichkeiten von höchster Potenz in diesem Bereich, oder
Denker wie Cousins und Schlegel dar über zu sagen haben. Mir genügt
es, den zunehmenden Einfluß einiger ihrer Konzepte festzustellen,
die großen Parallelen im früheren europäischen Denken und die
Verifizierungen alter indischer Metaphysik und Psychologie, die
Resultate der modernsten Forschung sind. In der Religion werde ich
mich nicht gerade an Harold Begbie oder irgendeinen europäischen
Atheisten oder Rationalisten wenden, um sein Urteil über unsere
Spiritualität zu bekommen, ich werde vielmehr prüfen, welches die
Eindrücke von aufgeschlossenen Menschen mit religiösem Gefühl und
religiöser Erfahrung sind, die allein als Richter fungieren können,
zum Beispiel ein spiritueller und religiöser Denker wir Tolstoi.
Oder ich prüfe gar – wobei ich eine unvermeidliche
Voreingenommenheit zugestehe -, was der kultivierte christliche
Missionar über eine Religion zu sagen hat, die er nicht mehr als
barbarischen Aberglauben abweisen kann. In der Kunst werde ich nicht
die Meinung des durchschnittlichen Europäers heranziehen, der nichts
vom Geist, der Bedeutung oder Technik indischer Architektur, Malerei
und Skulptur weiß. Bezüglich der ersteren werde ich eine anerkannte
Autorität wie Ferguson konsultieren; hinsichtlich der anderen kann
ich, wenn Kritiker wie Havell als parteiische abzulehnen sind,
zumindest etwas von Okakura oder Laurence Binyon lernen. In der
Literatur werde ich niemanden finden, denn meines Wissens hatte kein
westlicher Schriftstellter von Genie und hoher Reputation als
Kritiker eine authentische Kenntnis der Sanskrit-Literatur oder der
praktischen Dialekte. Ein Urteil, das sich auf Übersetzungen
gründet, kann sich nur mit dem Stoff auseinandersetzen, - und selbst
dies ist in den meisten Übersetzungen indischer Werke nur der tote
Stoff, der seines gesamten Lebensatems beraubt ist. Aber selbst hier
wird Goethes bekanntes Epigramm zu Shakuntala genügen, um mir zu
zeigen, daß alle indische Literatur im Vergleich zu europäischer
Schöpfung nicht von barbarischer Minderwertigkeit ist. Und
vielleicht finden wir hier und da einen Gelehrten von literarischem
Geschmack und Urteil – eine nicht allzu gewöhnliche Kombination –,
der uns helfen kann. Diese Art Ausflug wird uns sicher nicht ein
völlig zuverlässiges Wertschema geben, aber in jedem Fall werden wir
hier sicherer aufgehoben sein, als wenn wir uns dem Tieflandvolk der
Goughts, Archers und Begbies zuwenden.
Wenn ich es dennoch als notwendig oder nützlich erachte, diese
Abhandlungen zur Notiz zu nehmen, so geschieht es zu einem ganz
anderen Zweck. Selbst für jenen Zweck ist nicht alles, Archer
schreibt, nützlich; vieles davon ist so irrational, inkonsequent
oder gewissenlos in seinem Gedankengebilde, daß man es nur zur
Kenntnis nehmen kann, ohne ihm irgendwelche Beachtung zu schenken.
Wenn er zum Beispiel seinen Lesern versichert, indische Philosophen
meinten, der beste Weg, um die Wahrheiten des Universums zu
ermitteln, sei das Sitzen mit gekreuzten Beinen und Kontemplation
über den eigenen Nabel, und ihr wirkliches Ziel sei träge
Unbeweglichkeit und von den Almosen der Gläubigen zu leben, so ist
sein Zweck, wenn er dann eine der Stellungen abstrakter Meditation
beschreibt, der Meditation als solcher in den Augen der unwissenden
englischen Leser den Charakter eines törichten Unsinns und einer
selbstsüchtigen Faulheit aufzustempeln. Dies ist ein Beispiel seiner
Gewissenlosigkeit, das uns hilft, die Kniffe seines
rationalistischen Mentals zu bemerken, das sonst aber keinem anderen
Zweck dient. Wenn er bestreitet, daß es ein wirkliches Sittengesetz
im Hinduismus gebe, oder erklärt, dieser habe nie Sittenlehre als
eine seiner Aufgaben betrachtet – Aussagen, die das genaue Gegenteil
der wirklichen Tatsachen sind – wenn er soweit geht zu behaupten.
Hinduismus sei der Charakter des Volkes und indiziere eine
melancholische Neigung zu all jenem, das monströs und schädlich sei,
so kann man nur zu dem Schluß gelangen, daß Wahrheitsrede nicht eine
der sittlichen Tugenden ist, deren Übung William Archer für
notwendig hielt, zumindest, daß sie nicht notwendigerweise Teil der
Religionskritik eines Rationalisten zu sein braucht.
Aber nein, schließlich und
endlich wirft Archer dann soch grollend eine Gabe auf den Altar der
Wahrheit; denn er gesteht im selben Atemzug ein, der Hinduismus
spreche viel von Rechtschaffenheit, und konzediert, daß es in den
hinduistischen Schriften viele bewundernswerten ethische Doktrinen
gebe. Aber das beweist ihm nur, daß Hindu-Philosophie unlogisch sei.
Das Sittengesetz findet sich dort tatsächlich, aber es sollte
eigentlich nicht da sein; sein Vorhandensein läßt sich nicht mit
Archers These vereinbaren. Man bewundere die Logik, die rationale
Folgerichtigkeit dieses Vorkämpfers des Rationalismus! Und man
beachte zur selben Zeit, daß einer seiner Einwände gegen das
Ramayana, zugestandenermaßen eine der Bibeln des Hindu-Volkes, darin
besteht, daß seine Idealfiguren, Rama und Sita, Musterbilder des
höchsten indischen Ideals von Mann und Frau, für seinen Geschmack
viel zu tugendhaft sind. Rama ist zu heilig für die menschliche
Natur. Tatsächlich ist mir nicht bekannt, daß Rama heiliger als
Christus oder Franziskus wäre, doch mir schien immer, daß sie sich
im Rahmen der menschlichen Natur bewegten. Aber vielleicht wird
dieser Kritiker antworten, daß ihre übermäßigen Tugenden, wenn auch
nicht jenseits menschlicher Grenzen, so doch zumindest wie die
tägliche Praxis des Hindu-Kultes seien. Sollen wir zum Beispiel
sagen, gewissenhafte körperliche Reinheit, persönliche Sauberkeit
und die tägliche Hinwendung zu Gott in Anbetung und
Meditation,-reicht aus, sie außerhalb des Rahmens der Zivilisation
anzusiedeln? Denn er sagt uns, Sita, ein Ebenbild ehelicher Treue
und Keuschheit, sei so maßlos in ihrer Tugend, daß es an Unmoral
grenzt. Sinnlose gerissene Extravaganz hat hier ihren höchsten Punkt
erreicht, wenn sie so dem Idiotischen nahe kommt. Ich bedaure
ebenso, dieses Epithel zu benutzen, wie Archer bedauert, auf
indischer Barbarei herumzureiten, aber man kann wirklich nicht
umhin; es bringt den Wesenskern der Situation zum Ausdruck. Wenn
alles von dieser Art wäre – es gibt zu viel davon, und das ist
beklagenswert, - so wäre ein verächtliches Schweigen die einzig
mögliche Antwort. Aber glücklicherweise spannt Apollo seinen Bogen
nicht immer so bis zum Punkt, wo er bricht; nicht alle Teile von
Archer folgen diesem wilden Flug. Vieles in seinem Buch drückt in
grober Form, doch hinreichend genau das Gefühl des Widerwillens aus,
das das durchschnittliche okzidentale Mental bei seiner ersten
Begegnung mit den einzigartigen Wesensrügen der indischen Kultur
erfährt, und das ist etwas, was der Kenntnisnahme und Erforschung
wert ist; es ist notwendig, dies zu verstehen und seinen Wert zu
ergründen.
Dies ist der Nutzen, von dem ich Gebrauch machen möchte; denn ein
Nutzen ist es und sogar mehr als das. Durch den
Durchschnittsverstand gelangen wir am besten zum Felsgrund der
psychologischen Differenzen, die große Blöcke unserer gemeinen
Menschheit voneinander trennen. Das kultivierte Mental hat eine
Tendenz, die Kraft dieser Vorurteile zu mildern oder zumindest auch
innerhalb von Differenz und Opposition Berührungs- oder
Kontaktpunkte zu entwickeln. Bei der Durchschnittsmentalität haben
wir eine bessere Chance, sie in ihrer schlichten Kraft und ihrer
vollen Tragweite zu erkennen. Archer hilft unshier in
bewundernswerter Weise. Nicht, daß wir nicht zunächst viel Unrat
wegkehren müßten, um zu dem zu gelangen, was uns interessiert. Ich
hätte mich lieber mit einem Handbuch des Mißverstehens
auseinandergesetzt, das dieselbe große Themenweite hätte, sich
jedoch unmittelbarer und einfach und weniger verächtlich, gerissen
und oberflächlich feindselig ausdrückt; aber ein solches Werk steht
nicht zur Verfügung. Daher wollen wir uns mit Archer
auseinandersetzen und einige seiner Vorurteile sezieren, um ihr
innere Psychologie zu er-schließen. Vielleicht werden wir dabei
entdecken, daß wir durch all diese unerfreuliche Rohheit die Essenz
eines historischen Mißverständnisse zwischen Kontinenten ergründen
können. Ein genaues Verständnis dessen könnte uns sogar einer Art
Aussöhnung näher bringen.
Wir beginnen am besten mit
einem präzisen Bild jener Art von Kritiker, der wir unsere
Einschätzung gegnerischer Positionen entnehmen werden. Was wir hier
antreffen, sind die Gedanken eines durchschnittlichen und typischen
abendländischen Mental über die indische Kultur, eine Person von
hinreichender Ausbildung und großer Belesenheit, aber kein Genie
oder außerordentlich begabter Mann, vielmehr ein gewöhnliches
erfolgreiches Talent, keine mentale Flexibilität oder
verständnisvolle Anteilnahme des Geistes, sondern bestimmte und
starre Ansichten, die abgestützt werden und den Anschein von
Substanz erhalten durch die Gewohnheit, eine vielfältige, obgleich
nicht immer solide Information wirkungsvoll zu vermitteln. Wir haben
hier exakt Denkart und Standpunkt eines durchschnittlichen
Engländers von einiger Kapazität vor uns, der durch die Gewohnheiten
des Journalismus geformt wurde. Dies ist genau, was wir brauchen, um
die Natur des Gegensatzes zu erfassen, die Rudyard Kipling – er
selbst war ein Super-Journalist und übertriebener nicht-natürlicher
Durchschnittsmensch, gehobener Durchschnitt, ohne aufzuhören.
Letzteres zu sein, gehoben durch den Glanz einer Art unreifen und
barbarischen Genies – dazu führte, von der ewigen Unversöhnlichkeit
von Ost und West zu sprechen. Wir wollen sehen, was einer solchen
Mentalität als einzigartig und abstoßend zum indischen Mental und
seiner Kultur ins Auge fällt: Wenn wir alle persönliche
Empfindlichkeit hintanstellen können und dieses Phänomen nüchtern
betrachten, werden wir finden, daß e seine interessante und
auf-klärende Studie ergibt.
Man mag einen gewissen Einwand dagegen erheben, daß hier ein
rationalistischer Kritiker mit einem politischen Vorurteil, ein
Mental, das im besten Fall zu einem Heute gehört, das bereits zum
Gestern wird, in diesem repräsentativen Umfang herangezogen wird.
Das Mißverständnis der Kontinente war das Resultat lange bestehender
historischer Differenz, und dieses Buch stellt nur eine Phase davon
dar, die von sehr moderner Art ist. Aber es geschah in modernen
Zeiten, in einem Zeitalter wissenschaftlicher und rationalistischer
Aufklärung, daß die Differenz am ausgeprägtesten wurde, das
Mißverständnis am aggressivsten und das Gefühl kultureller
Unvereinbarkeit am bewusstesten und deutlichsten. Ein alter Grieche,
voll unvereingenommener intellektueller Wissbegierde und von
flexibler ästhetischer Einschätzung, stand trotz seines Gefühls
rassischer und kultureller Überlegenheit gegenüber den Barbaren dem
indischen Geist viel näher als ein typisch moderner Europäer. Nicht
nur ein Pythagoras oder ein Philosoph der Neuplatonischen Schule,
ein Alexander oder ein Miteinander konnte mit bereitwilliger
Sympathie die Kerngedanken asiatischer Kultur verstehen, man kann
auch davon ausgehen, daß ein durchschnittlicher Mensch von Format,
ein Megasthenes zum Beispiel, zu Schau und Verständnis fähig war,
wenngleich nicht von innen her und vollkommen, so doch in
hinreichendem Maße. Der mittelalterliche Europäer ähnelte, bei all
seinem militanten Christentum und seinem Vorurteil gegen den
Ungläubigen und den Heiden, seinem Widerpart doch vielfach
hinsichtlich der charakteristischen Art des Sehens und Fühlens in
einem Ausmaß, das einem durchschnittlichen europäischen Mental heute
nicht mehr möglich ist, es sei denn, es ist mit den neuen Ideen
gespeist worden, die die Kluft zwischen den Kontinenten einmal mehr
verringern. Es war das Rationalisieren des westlichen Mentals, das
Rationalisieren selbst seiner religiösen Gedanken und Empfindungen,
welches die Kluft so groß werden ließ, daß sie unüberbrückbar
erschien. Unser Kritiker repräsentiert diese erhöhte Feindseligkeit
in einer extremen Form, einer Gestalt, die ihr vom nicht denkenden
Freidenker gegeben wird, dem Mann, der diese schwierigen Probleme
nicht ursprünglich durchdacht hat, sondern seine Anschauungen seiner
kulturellen Umgebung und der intellektuellen Atmosphäre dieser
Epoche entnommen hat. Er wird die gegensätzlichen Punkte gewaltig
übertreiben, sie aber gerade durch die Übertreibung deutlicher
herausheben und ersichtlich machen. Seinen Mangel an korrekter
Information und intelligenter Forschung wird er wettmachen durch
eine gewisse Instinktsicherheit in seinem Angriff auf Dinge, die
seiner eigenen mentalen Anschauung fremd sind.
Es ist diese
Instinktsicherheit, die ihn dazu führte, den eigentlichen
Schwerpunkt seines Angriffs gegen indische Philosophie und Religion
zu richten. Die Kultur eines Volkes läßt sich grob beschreiben als
der Ausdruck eines Bewußtseins von Leben, das sich in drei Aspekten
formuliert. Wir haben einen Aspekt des Denkens, des Ideals, des
aufwärts gerichteten Willens und der Sehnsucht der Seele; wir haben
ferner den Aspekt des schöpferischen Selbstausdrucks und der
anerkennenden Aesthesis, Intelligenz und Vorstellungskraft; und
schließlich einen Aspekt praktischer und äußerer Gestaltung. Die
Philosophie und das höhere Denken des Volkes geben uns von dessen
Mental die reinste, weiteste und allgemeinste Formulierung seines
Bewusstseins vom Leben und seiner dynamischen Weltanschauung. Seine
Religion bildet die intensivste Form seines aufstrebenden Willens
und legt die Aspirationen der Seele zur Erfüllung ihres höchsten
Ideals und Antriebs dar. Seine Kunst, Dichtung, Literatur geben uns
den kreativen Ausdruck und Eindruck von seiner Intuition,
Vorstellungskraft, vitalen Ausrichtung und schöpferischen
Intelligenz. Seine Gesellschaft und Politik liefern in ihren Formen
einen äußeren Rahmen, in dem das mehr äußerliche Leben von seinem
anfeuernden Ideal, seinem besonderen Charakter und seiner Natur
ausarbeitet, was ihm unter den Schwierigkeiten der Umgebung möglich
ist. Wir können sehen, wieviel as von dem ungeformten Lebensmaterial
genommen, was es damit getan, wie es so viel möglich davon zu einer
Art Ebenbild seines leitenden Bewusstseins und tieferen Geistes
gestaltet hat. Keines von ihnen drückt den gesamten geheimen Geist
dahinter aus, aber sie beziehen ihre Hauptgedanken und ihren
kulturellen Charakter von dort. Zusammen bilden sie seine Seele,
sein Mental und seinen Körper. In der indischen Zivilisation hatten
Philosophie und Religion die Führung inne, Philosophie dynamisch
gemacht durch Religion und Religion aufgeklärt durch Philosophie, -
der Rest folgt, so gut er kann. Dies ist in der Tat ihr erstes
Charaktermerkmal, das sie mit den höher entwickelten asiatischen
Völkern teilt, jedoch zu einem außergewöhnlichen Grad tiefer
Durchdringung geführt hat. Wenn man sie eine brahmanische
Zivilisation nennt, so ist dies die eigentliche Bedeutung des
Wortes. Es kann nicht wirklich irgendeine Vorherrschaft des
Priesterwesens beinhalten, obgleich der priesterliche Geist in
einigen niederen Aspekten der Kultur nur zu deutlich hervortrat;
denn der Priester als solcher war nicht daran beteiligt, der Kultur
ihre großen Grundlinien zu geben. Aber es ist wahr, daß ihre
Hauptmotive durch philosophische Denker und religiöse Gemüter
geformt wurden, und in keinem Falle waren sie alle Brahmanen von
Geburt. Die Tatsache, daß eine Klasse entwickelt wurde, deren
Aufgabe es war, die spirituellen Traditionen, das Wissen und das
heilige Gesetz des Volkes zu bewahren, - denn dies und nicht ein
bloßes Priesteramt war die eigentliche Aufgabe des Brahmanen, - und
daß diese Klasse Tausende von Jahren die Haltung des nationalen
Mentals und Gewissens und die Grundrichtung gesellschaftlicher
Prinzipien, Formen und Sitten weitgehend sicherstellen, jedoch nicht
monopolisieren konnte, ist nur ein Hinweis auf das Typische.
Dahinter steht die Tatsache, daß die indische Kultur von Anfang an
eine spirituelle, nach innen gerichtete religiös-philosophische
Kultur war und geblieben ist. Alles andere in ihr leitete sich von
jener einen zentralen und ursprünglichen Besonderheit ab oder war in
diese oder jener Weise abhängig von ihr oder ihr untergeordnet;
selbst das äußere Leben wurde dem nach innen gerichteten Geist
unterworfen.
Unser Kritiker fühlte die Bedeutung dieses Kernpunktes und hat
dagegen seine höchst unerbittliche Attacke gerichtet. In anderen
Bereichen mag er Zugeständnisse machen, Abschwächungen zulassen,
hier wird er keine einräumen. Hier muß alles schlecht und schädlich
sein, oder wenn nicht ungesund, so solch aufgrund der Natur selbst
der zentralen Gedanken und Motive unfähig, wirklich Gutes zu
vollbringen. Dies ist eine bezeichnende Haltung. In der Tat gibt es
hier das polemische Motiv. Was für das indische Bewusstsein und
seine Zivilisation beansprucht wird, ist eine hohe Spiritualität,
hoch auf allen Gipfeln des Denkens und der Religion, wobei sie
Kunst, Literatur, religiöse Praxis und gesellschaftliche
Vorstellungen durchdringt und die Lebenseinstellung selbst des
gewöhnlichen Menschen beeinflusst. Wenn dieser Anspruch zugestanden
wird, was alle wohlgesinnten und unvoreingenommenen Sucher bereit
sind zu tun, selbst wenn sie die indische Lebensanschauung nicht
akzeptieren, dann hat die indische Kultur ihren Rang und ihre
Zivilisation ein Recht auf Existenz. Mehr als das, sie hat sogar ein
Recht, den rationalistischen Modernismus herauszufordern und zu
sagen” Erreiche erst mein Niveau der Spiritualität, bevor du den
Anspruch erhebst, mich zu zerstören und zu verdrängen, oder mich
aufforderst, ich solle mich ganz in deinem Sinn modernisieren, Wenn
ich auch in letzter Zeit von meinen Höhen gefallen bin oder meine
gegenwärtigen Formen nicht alle Erfordernisse des künftigen Mentals
der Menschheit erfüllen, so kann ich doch wieder aufsteigen, die
Kraft ist in mir. Ich kann sogar in der Lage sein, einen
spirituellen Modernismus zu entwickeln, der dir in dieser Bemühung
helfen wird, dich selbst zu überwinden und zu einer größeren
Harmonie zu gelangen als irgendeiner, die du in der Vergangenheit
erreicht hast oder von der du in der Gegenwart träumen kannst. Der
feindselige Kritiker spürt, daß er diesen Anspruch an seiner Wurzel
leugnen muß. Er versucht zu beweisen, daß indische Philopohie
unspirituell und die indische Religion ein irrationaler
animistischer Kult der Absonderlichkeit sei. In diesem Bemühen,
welches ein Versuch ist, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen und zu
zwingen, Fakten umgekehrt zu sehen, gelangt er zu eine paradoxen
Ungereimtheit und Widersprüchlichkeit, die seine Sache durch schiere
Übertreibung zunichte macht. Und doch zeichnen sich selbst in diesem
Durcheinander zwei echte Fragestellungen ab. Erstens können wir
fragen, ob die spirituelle, religiös-philosophische Lebensanschauung
und Lenkung der Zivilisation durch ihre Vorstellungen und Motive
oder aber die rationalistische, nach außen gerichtete
Lebensanschauung und Befriedigung des vitalen Wesens, gelenkt durch
die intellektuelle und praktische Vernunft, der Menschheit die beste
Führung verschaffen. Und wenn wir einmal den Wert und die Kraft
eines spirituellen Lebenskonzepts voraussetzen, können wir fragen,
ob der Ausdruck, der ihm von der indischen Kultur gegeben wird, der
bestmögliche und der förderlichste ist für des Wachstum der
Menschheit zu ihrem höchsten Entwicklungsstand. Dies sind die
wirklichen Fragen, die zwischen dem asiatischen oder historischen
Mental und der europäischen oder modernen Intelligenz zu Diskussion
stehen.
Der typisch okzidentale Verstand, der noch die Mentalität des 18.
und 19. Jahrhunderts fortsetzt, wurde fast völlig von der zweiten
Anschauung geformt. Er hat die Gestalt des vitalistischen rationalen
Gedankens angenommen. Seine Einstellung zum Leben wurde nie von
einem philosophischen Daseinskonzept bestimmt, abgesehen von einer
kurzen Periode der griechischrömischen Kultur und selbst da nur bei
einer kleinen Klasse denkender und hoch kultivierter
Persönlichkeiten; stets wird er dominiert von Notwendigkeiten der
Umwelt und praktischer Vernunft. Er hat auch jene Zeitalter hinter
sich gelassen, in denen spirituelle und religiöse Konzepte, die vom
Osten eindrangen, sich der vitalistischen und rationalen Tendenz
aufzuzwingen suchten. Er hat sie weitgehend zurückgewiesen oder in
die Ecke gedrängt. Seine Religion ist die Religion des Lebens, eine
Religion der Erde und der irdischen Menschheit, ein Ideal
intellektuellen Wachstums, vitaler Wirksamkeit, physischer
Gesundheit und Freude, eine rationale Gesellschaftsordnung. Wenn
dieser Verstand der indischen Kultur konfrontiert wird, so fühlt er
sich sogleich zurückgestoßen, erstens aufgrund deren Fremdheit und
Ungewöhnlichem, dann aufgrund eines Gefühls irrationaler Abnormität,
totaler Verschiedenheit und oft eines diametralen Gegensatzes von
Standpunkten, schließlich einer Überfülle von unbegreiflichen
Formen. Seinem Auge scheinen diese Formen voll des Übernatürlichen
zu sein und deswegen, so meint er, voll des Verkehrten. Selbst das
Unnatürliche ist vorhanden, ein ständiges Abweichen von der gemeinen
Norm, von rechter Methode und gesundem Mittel, ein Rahmen von
Dingen, in dem alles, um Chestertons Ausdruck zu gebrauchen, die
falsche Form hat. Der alte orthodoxe christliche Standpunkt mag
diese Kultur als ein Höllenwerk betrachten, eine anomale Schöpfung
von Dämonen. Der moderne orthodoxe rationalistische Standpunkt
betrachtet sie als einen Alptraum, der nicht nur irrational, sondern
anti rational ist, ein monströses Gebilde, eine altmodische
Anomalie, im besten Fall als eine bunte Phantasie der orientalischen
Vergangenheit. Dies ist ohne Zweifel eine extreme Haltung – es ist
die von Archer – aber Mangel an Verständnis und Geschmack sind die
Regel. Man findet ständig Spuren dieser Gefühles selbst bei
Personen, die zu verstehen und zu sympathisieren suchen; aber dem
durchschnittlichen Westmenschen, der sich mit seinen ersten unreifen
natürlichen Eindrücken zufrieden gibt, ist alles eine abstoßende
Konfusion. Indische Philosophie ist ein unbegreifliches,
subtil-substanzloses Hirngespinst; indische Religion übersetzt sich
seinem Auge als Mischung von absurdem Asketentum und einem noch
absurderen ungeschliffenen, unmoralischen und abergläubischen
Polytheismus. Er sieht in der indischen Kunst eine Orgie grob
entstellter oder konventioneller Formen und ein unmögliches Suchen
nach Andeutungen des Unendlichen – wohingegen alle wahre Kunst eine
schöne und rationale Reproduktion oder feine schöpferische
Repräsentation des Natürlichen und Endlichen sein sollte. Er
verdammt in der indischen Gesellschaft das Überleben von
anachronistischen Gedanken und halbbarbarischen Institutionen der
alten Welt und des Mittelalters. Diese Betrachtungsweise, die in
jüngerer Zeit einen Wandel durchmachte und sich jetzt weniger laut
und selbstsicher artikuliert, aber immer noch existiert, ist die
ganze Grundlage von Archers Philippika.
Dies wird deutlich aus der
Art der Einwände, die er gegen die indische Zivilisation vorbringt.
Wenn man sie ihrer journalistischen Rhetorik beraubt, so entdeckt
man, daß sie schlicht hinauslaufen auf diese natürliche Polarität
des rationalisierten vitalen und praktischen Menschen gegenüber
einer Kultur, die den Verstand einer über rationalen Spiritualität
unterordnet und Leben und Handeln einem Erahnen von etwas
unterstellt, das größer als Leben und Handeln ist, Philosophie und
Religion sind die Seele der indischen Kultur, untrennbar voneinander
und sich wechselseitig durchdringend. Das ganze Ziel der indischen
Philosophie, ihre gesamte raisondetre, ist Erkenntnis des Geistes,
seine Erfahrung und der rechte Weg zu einem spirituellen Leben; ihr
einziges Ziel fällt zusammen mit der höchsten Bedeutung von
Religion. Die indische Religion entnimmt all ihren
charakteristischen Wert der spirituellen Philosophie, die ihr
höchstes Sehnen anregt und selbst den größten Teil von dem
beeinflusst, was einer niederen Ebene religiöser Erfahrung entnommen
ist. Aber welches sind Archers Einwände, zunächst gegen die indische
Philosophie? Sein erster Einwand läuft schlicht darauf hinaus, daß
sie zu philosophisch sei. Sein zweiter Anklagepunkt ist, daß sie
selbst als jenes wertlose Ding, als metaphysische Philosophie, zu
metaphysisch sei. Sein dritter Punkt, der stärkste und plausibelste,
ist der, daß sie die Persönlichkeit und die Willenskraft schwäche
und zerstöre durch falsche Konzepte von Pessimismus, Asketentum,
Karma und Wiedergeburt. Wenn wir seine Kritik unter jeder dieser
Rubriken prüfen, so werden wir sehen, daß es sich nicht wirklich um
eine unvoreingenommene intellektuelle Kritik handelt, sondern um die
übertriebene Äußerung einer mentalen Abneigung und einen
fundamentalen Unterschied von Temperament und Standpunkt.
Archer kann nicht leugnen – eine solche Leugnung übersteige selbst
seine unübertroffene Fähigkeit zu Ungereimtheiten –, daß das
indische Mental eine beispiellose Aktivität und Fruchtbarkeit im
philosophischen Denken an den Tag gelegt hat. Er kann nicht leugnen,
daß Vertrautheit mit metaphysicschen Konzepten und die Fähigkeit,
ein metaphysisches Problem mit einigem Feinsinn zu erläutern, in
Indien sehr viel weiter verbreitet ist als in jedem anderen Land.
Selbst der gewöhnliche Intellekt kann Fragen dieser Art verstehen
und handhaben, während ein westliches Mental von entsprechender
Kultur und Ausbildung ebenso hoffnungslos verloren wäre, wie es bei
Mr. Archer auf diesen Seiten der Fall ist. Aber er bestreitet, daß
diese Vertrautheit und dieser Feinsinn ein Beweis für große mentale
Kapazität wären – notwendigerweise, fügt er hinzu, ich nehme an, um
dem Vorwurf auszuweichen, er habe damit gesagt, Plato, Spinoza oder
Berkeley hätten Keine große mentale Begabung zuzuweisen. Vielleicht
ist es nicht notwendigerweise ein solcher Beweis; aber es zeigt sehr
wohl in einer großen Rangordnung von Fragen, in einem weiten und
besonders schwierigen Bereich der mentalen Kräfte und Interessen
eine bemerkenswerte und einzigartige allgemeine Entwicklung. Die
Fähigkeit des europäischen Journalisten, mit einem gewissen
Scharfsinn Fragen von Wirtschaft und Politik, oder Kunst, Literatur
und Drama zu erörtern; ist nicht notwendigerweise Beweis für große
mentale Fähigkeit; sie zeigt aber sehr wohl eine große Entwicklung
der europäischen Mentalität im allgemeinen, eine umfassende
Information und normale Fähigkeit in diesen Bereichen ihrer
Tätigkeit. Die Unreife ihrer Meinungen und der Behandlung ihrer
Themen mag einem Außenstehenden gelegentlich etwas barbarisch
erscheinen; aber die Sache selbst ist ein Beweis, daß eine Kultur
gegeben ist, eine Zivilisation, große intellektuelle und bürgerliche
Leistungen und ein hinreichend verbreitetes Interesse daran. Archer
muß eine ähnliche Schlussfolgerung in einem anderen subtileren und
schwierigeren Bereich bezüglich Indien vermeiden. Er tut dies, indem
er bestreitet, daß Philosophie irgendeinen Wert habe. Diese
Tätigkeit des indischen Mentals ist für ihn nur ein beispielloser
Fleiß im Erkennen des Unerkennbaren und Denken über das Undenkbare.
Und warum dies? Nun, weil die Philosophie von einer Region handelt,
für die es keinen möglichen Wertetest gebe und weil in einer solchen
Region das Denken selbst, da es bloß nicht beweisbare Spekulation
sei, von wenig oder keinem Wert ist.
Hier gelangen wir zu einem wirklich interessanten und
charakteristischen Gegensatz von Standpunkten, mehr noch, zu einem
Unterschied im Wesen der Mentalität. Wie bereits erwähnt, ist es das
skeptische Argument des Atheisten und Agnostikers, aber schließlich
und endlich ist dies nur der extreme logische Ausdruck einer
Haltung, die der durchschnittlichen europäischen Denkweise gemein
ist, die eine positivistische Haltung ist. Philosophie wurde in
Europa mit großen und vortrefflichen intellektuellen Resultaten von
den größten Denkern betrieben, aber weitgehend als eine vom Leben
gesonderte Tätigkeit, eine hohe und brillante, jedoch wirksame
Angelegenheit. Es ist bemerkenswert, daß während Philosophie in
Indien und China Einfluß auf das Leben, eine gewaltige praktische
Einwirkung auf die Zivilisation genommen hat und dem jeweiligen
aktuellen Denken und Handeln förmlich einverleibt wurde, sie diese
Bedeutung in Europa nie zu erlangen vermochte. Zur Zeit der Stoiker
und Epikuräer gewann sie Einfluß, jedoch nur in der kulturellen
Oberschicht. Auch in der Gegenwart haben wir eine erneute Tendenz
dieser Art. Nietzsche hatte Einfluss, auch gewisse Denker in
Frankreich, und die Philosophien von James und Bergson erregten ein
gewisses öffentliches Interesse. Aber dies ist nichts im Vergleich
zur
Wirkkraft der asiatischen Philosophie. Der durchschnittliche
Europäer entnimmt seine Hauptanschauungen nicht der philosophischen,
sondern der empirischen und praktischen Vernunft. Er verachtet nicht
die Philosophie schlechterdings wie Archer, aber er betrachtet sie,
wenn auch nicht als vom Menschen gemachte Illusion so doch als eine
recht tabulose ferne und wirkungslose Art von Tätigkeit. Er ehrt die
Philosophen, stellt aber ihre Werke auf das höchste Bücherbord der
Bibliothek der Zivilisation, wo sie nur von einigen wenigen
außergewöhnlichen Denkern herunterzunehmen und zu konsultieren sind.
Er bewundert sie, misstraut ihnen jedoch. Platos Gedanke von
Philosophen als den rechten Herrschern und besten Führern der
Gesellschaft erscheint ihm als eine äußerst phantastische und
unpraktische Vorstellung. Der Philosoph müsse genau deshalb, weil er
sich unter Ideen bewegt, ohne jeden Einfluß auf das wirkliche Leben
bleiben. Das indische Bewusstsein geht hingegen davon aus, daß der
Rishi, der Denker, der Seher spiritueller Wahrheit der beste
Wegweiser nicht nur im religiösen und sittlichen, sondern auch im
praktischen Leben ist. Der Seher, der Rishi ist der natürliche
Führer der Gesellschaft; den Rishis schreibt der Inder die Ideale
und führenden Intuitionen seiner Zivilisation zu. Selbst heute ist
er bereit, diese Bezeichnung jedem zu geben, der eine spirituelle
Wahrheit vermitteln kann, die seinem Leben hilft, oder eine
konstruktive Idee und Inspiration, die Religion, Ethik,
Gesellschaft, selbst Politik beeinflusst.
Der Grund dafür ist, daß der Inder glaubt, die letzten Wahrheiten
seien Wahrheiten des Geistes, und die Wahrheiten des Geistes seien
die fundamentalsten und wirksamsten Wahrheiten unseres Lebens, stark
schöpferisch für das innere, heilsam reformierend für das äußere
Leben. Dem Europäer sind die letzten Wahrheiten häufiger Wahrheiten
des begriffsbildenden Intellekts, der reinen Vernunft; aber ganz
gleich, ob intellektuell oder spirituell, sie gehören einer Sphäre
jenseits der gewöhnlichen Funktion von Mental, Leben und Körper an,
wo es allein tägliche verifizierende Wertetests gibt. Diese Tests
können nur durch lebendige Erfahrung äußerer Tatsachen und durch die
empirische und praktische Vernunft vollzogen werden. Alles übrige
sich ihm Spekulationen, und ihr rechter Platz ist in der Welt der
Ideen, nicht in der Welt des Lebens. Dies führt uns zu einem
Unterschied des Standpunktes, der die Substanz von Archers zweitem
Einwand bildet. Er glaubt, daß alle Philosophie Spekulation und
Mutmaßung sei. Die einzige nachweisbare Wahrheit, so müssen wir dann
annehmen, ist die der normalen Tatsache, die äußere Welt und unsere
Reaktion darauf, die Wahrheit der Naturwissenschaft sowie eine
Psychologie, die sich auf Naturwissenschaft gründet. Er tadelt die
indische Philosophie dafür, daß sie ihre Spekulationen ernst
genommen hat, daß sie Spekulation verkleidet als Dogma präsentiert,
sowie auch für die unspirituelle Gewohnheit, die Suchen mit Schauen
und Mutmaßung mit Wissen verwechselt, - anstelle der sehr
spirituellen Gewohnheit, so vermute ich, die das physisch Fühlbare
für das einzig Erkennbare hält und die Erkenntnis des Körpers für
die Erkenntnis von Seele und Geist nimmt. Mit bitterem Sarkasmus
zieht er über die Auffassung her, daß philosophische Meditation und
Yoga der Beste Weg seien, um die Wahrheit der Natur und die Strkas
des Universums zu ergründen. Archers Beschreibungen der indischen
Philosophie sind eine aus grober Unwissenheit geborene
Fehldarstellung ihres Konzepts und Geistes, aber in ihrem Wesen
repräsentieren sie die Anschauung, der das normale positivistische
Mental des Westens folgt.
Tatsächlich verabscheut indische Philosophie bloße Mutmaßung und
Spekulation. Dieses Wort wird ständig von europäischen Kritikern mit
Hinblick auf die Gedanken und Schlussfolgerungen der Upanischaden,
der philosophischen Systeme und des Buddhismus verwandt. Indische
Philosophen würden es als eine keineswegs gültige Beschreibung ihrer
Methode strikt zurückweisen. Wenn unsere Philosophie auch ein
letztlich Undenkbares und Unerkennbares zulässt, so beschäftigt sie
sich doch nicht mit irgendeiner empirischen Beschreibung oder
Analyse jenes höchsten Mysteriums, - die Ungereimtheit, die der
Rationalist ihr vorhält. Es geht ihr um alles, was denkbar und
erkennbar für uns ist, auf der höchsten Stufe, ebenso wie in den
niederen Bereichen unserer Erfahrung. Wenn sie in der Lage war, ihre
Schlussfolgerungen zu religiösen Glaubensartikeln zu machen –
Dogmen, wie man sie hier nennt –, so deshalb, weil sie auf einer
Erfahrung zu gründen vermochte, die jeder nachvollziehen kann, der
die notwendigen Mittel einsetzt und die einzig möglichen Tests
vornimmt. Das indische Mental gesteht nicht zu, daß der einzig
mögliche Wertetest oder Realitätstest der äußere
naturwissenschaftliche sei, der Test einer gründlichen Prüfung der
physischen Natur oder der alltäglichen normalen Tatsachen unserer
Oberflächenpsychologie, was nur eine kleine Bewegung auf weiten
verborgenen unterbewussten und überbewußten Höhen, Tiefen und Weiten
ist. Welches sind die Prüfsteine für diese mehr gewöhnlichen oder
objektiven Werte? Offenbar Erfahrung, experimentelle Analyes und
Synthese, Verstand, Intuition; denn ich denken, der Wert der
Intuition wird heutzutage von der modernen Philosophie und
Naturwissenschaft eingestanden. Die Prüfsteine dieser anderen,
subtileren Ordnung von Wahrheiten sind dieselben: Erfahrung,
experimentelle Analyse und Synthese, Verstand und Intuition. Da
diese jedoch Wahrheiten der Seele und des Geistes sind, muß es sich
nur notwendigerweise um eine psychologische und spirituelle
Erfahrung handeln, ein psychologisches und psychophysisches
Experimentieren, Analyse und Synthese, eine höhere Intuition, die in
höhere Bereiche, Realitäten, Möglichkeiten des Seins blickt, eine
Vernunft, die etwas jenseits ihrer selbst zulässt, zum
Überrationalen aufblickt und soweit wie möglich der menschlichen
Intelligenz Bericht davon erstattet. Yoga, zu dessen Verzicht Mr.
Archer uns so dringend auffordert, ist in sich selbst nichts anderes
als ein erprobtes Mittel zu Öffnung dieser größeren
Erfahrungsbereiche. Von Mr. Archer und Menschen seiner Art kann man
nicht erwarten, daß sie von diesen Dingen wissen. Sie liegen
jenseits des kleinen engen Bereiches von Fakten und Ideen, der für
sie den ganzen Radius der Erkenntnis umfaßt. Aber selbst wenn er das
Wissen hätte, würde es keinen Unterschied für ihn bedeuten. Er würde
schon den bloßen Gedanken mit spöttischer Ungeduld zurückweisen,
ohne seine eigene gewaltige rationalistische Überlegenheit durch
Ergründen der Möglichkeit einer nicht vertrauten Wahrheit
herabzuwürdigen. Bei dieser Haltung hätte er den durchschnittlichen
positivistischen Geist auf seiner Seite. Jenem Verstand erscheinen
solche Vorstellungen schon ihrer Natur nach absurd und
unbegreiflich, - viel schlimmer noch als Griechisch und Hebräisch,
Sprachen, die sehr angesehene und vertrauenswürdige Professoren
haben; aber diese sind Hieroglyphen, die nur von Indern, Theosophen
und mystischen Denkern, einer anrüchigen Sippe, als dechiffriere
Zeichen gewürdigt werden können. Er kann Dogma und Spekulation über
spirituelle Wahrheit verstehen, einen Priester, eine Bibel, ganz
gleich, ob er sie anzweifelt oder konventionell akzeptiert; aber
nachweisbare tiefste spirituelle Wahrheit, sicher zu ermittelnde
spirituelle Werte! Dieser Gedanke ist jener Mentalität fremd und
klingt ihr wie ein Jargon. Er kann eine autoritative Religion
verstehen – selbst wenn er sie zurückweist –, ein ich glaube, weil
es rational unmöglich ist. Aber ein tiefstes Mysterium der Religion,
eine höchste Wahrheit philosophischen Denkens, eine weiteste letzte
Entdeckung psychologischer Erfahrung, ein systematisches und
geordnetes Experimentieren der Selbstsuche und Selbstanalyse, eine
konstruktive innere Möglichkeit der Selbstvervollkommnung, welche
alle zum selben Resultat gelangen und wechselseitig ihren jeweiligen
Schlussfolgerungen beipflichten, wobei sie Geist und Vernunft und
die gesamte psychologische Natur und ihre tiefsten Erfordernisse
aussöhnen, - dieses große und ständige Suchen und Triumphieren der
indischen Kultur verblüfft und verärgert den durchschnittlichen
positivistischen Verstand des Westens. Es verwirrt ihn der Besitz
eines Wissens, nach dem der Westen sich stets nur vortastete und das
ihm am Ende entging. Irritiert, verwirrt und verächtlich weigert er
sich, die Überlegenheit einer solchen Harmonie gegenüber seiner
eigenen niederen, in sich selbstzerteilten Kultur anzuerkennen. Denn
er ist nur an ein religiöses Suchen und eine religiöse Erfahrung
gewöhnt, die sich mit Naturwissenschaft und Philosophie im Streit
befindet oder zwischen irrationalem Glauben und einem geplagten oder
einem selbstsicheren Skeptizismus schwankt. In Europa war
Philosophie gelegentlich die Dienerin – nicht die Schwester – der
Religion. Häufiger noch hat sie religiösem Glauben in Feindschaft
oder verächtlicher Trennung den Rücken gekehrt. Der Krieg zwischen
Religion und Naturwissenschaft war fast das herausragende Phänomen
europäischer Kultur. Selbst Philosophie und Naturwissenschaft
konnten nicht zu Einigkeit gelangen; auch sie stritten und trennten
sich. Diese Kräfte koexistieren noch in Europa, aber sie sind keine
glückliche Familie; Bürgerkrieg ist ihre natürliche Atmosphäre.
Es nimmt nicht Wunder, wenn
sich das positivistische Mental, für das dies die natürliche Ordnung
der Dinge zu sein scheint, von einer Denk- und Erkenntnisweise
abwendet, in der Harmonie, Konsensus, Einigkeit zwischen Philosophie
und Religion besteht, ebenso wie eine systematisierte, gut erprobte
psychologische Erfahrung. Es läßt sich leicht dazu bringen, der
Herausforderung dieser fremden Form von Wissen zu entgehen, indem
der indische Psychologie bereitwillig als Dschungel selbst
hypnotisierender Halluzinationen, indische Religion als üppigen
Auswuchs anti-rationalen Aberglaubens, indische Philosophie als ein
fernes Wolkenland substanzloser Spekulation zurückweist. Dabei ist
verhängnisvoll für den geistigen Frieden, den diese selbstzufriedene
Haltung mit sich bringt, und für die Wirkung von Archers geschickter
aber verheerender Methode der Kritik, daß auch der Westen in
jüngster Zeit auf Pfade des Denkens und der Entdeckung gestoßen,
wurde, die die Wahrscheinlichkeit gefährlich nahe bringen, daß all
diese Masse unerfreulicher Barbarei gerechtfertigt wird und Europa
selbst einer so monströsen Denkweise näher rückt. Denn es wird immer
deutlicher, die indische Philosophie hat auf ihre Weise den größten
Teil von dem vorweggenommen, was in metaphysischer Spekulation
erdacht wurde oder erdacht wird. Man findet, daß selbst das
naturwissenschaftliche Denken sehr alte indische allgemeine Thesen
vom anderen Ende der Forschungsskala wiederholt. Indische
Psychologie, die Archer zugleich mit indischer Kosmologie und
Physiologie als unbegründete Klassifizierung und erfinderische
Mutmaßung zurückweist – sie ist alles andere als das, denn sie ist
rigoros auf Erfahrung gegründet –, findet mehr und mehr Bestätigung
in den jüngsten psychologischen Entdeckungen. Die Grundvorstellungen
der indischen Religion scheinen einem Triumph gefährlich nahe, durch
den sie zum herausragenden Denken und Empfinden einer neuen und
universalen religiösen Mentalität und spirituellen Suche würden. Wer
könnte denn behaupten, daß die Psyche-Physiologie des indischen Yoga
nicht Bestätigung finden wird, wenn gewisse Ansätze des Suchens und
Mutmaßens im Westen ein wenig weiter vorangetrieben werden?
Vielleicht wird sogar die indische kosmologische Vorstellung, daß es
andere Seinsebenen gibt als dieses leicht wahrnehmbare Königreich
der Materie, in einer nicht sehr fernen Zukunft rehabilitiert! Aber
das positivistische Mental kann einstweilen noch guten Mutes sein;
denn sein Einfluss ist noch stark, und es erhebt noch den Anspruch
auf intellektuelle Orthodoxie und das Prestige des Besitzrechtes.
Viele Ströme müssen anschwellen und zusammenfließen, bevor es
überspült wird und eine Flutwelle einigenden Denkens die Menschheit
zu den verborgenen Ufern des Geistes trägt.
Diese Kritik ist insoweit
nicht sehr erschütternd; ihre Schärft, sofern sie irgendeine außer
derjenigen flagrante Fehldarstellung hat, richtet sich gegen den
Angreifer selbst. Wenn der Philosophie ein hoher Wert beigemessen
wurde, wenn durch sie die höchsten Geheimnisse unseres Wesens
erforscht wurden, ein philosophisches Denken wirksam auf das Leben
gerichtet war und die Denker, die Menschen tiefster spiritueller
Erfahrung, höchster Ideen, weitesten verfügbaren Wissens
herangezogen wurden, um die Gesellschaft zu lenken und zu formen,
wenn Bekenntnis und Dogma dem Test philosophischen Denkens
unterworfen wurden und religiöser Glaube sich auf spirituelle
Intuition gründete, so sind dies Zeichen von Barbarei oder einer
unbedeutenden und unwissenden Kultur, sondern Merkmale des
höchstmöglichen Typus von Zivilisation. Es gibt hier nichts, was
rechtfertigen würde, daß wir uns von den Idolen der positivistischen
Vernunft erniedrigen oder den Geist und das Ziel der indischen
Kultur überhaupt niedriger ansetzen als den Geist und des Ziel
westlicher Zivilisation, ob in ihrer hohen älteren Zeit rationaler
Aufklärung und spekulativen Denkens oder in ihrer modernen Zeit
weiten und präzisen wissenschaftlichen Denkens und wirksam
angewandten Wissens. Sie ist anders, nicht unterlegen, sie hat
vielmehr ein deutliches Element der Überlegenheit in der
einzigartigen Qualität ihres Motivs und der hohen spirituellen
Gesinnung ihres Bemühens.
Es ist von Nutzen, diese Größe von Geist und Ziel herauszuheben,
nicht nur, weil sie von erheblicher Bedeutung ist und den ersten
Prüfstein für den Wert einer Kultur bildet, sondern weil die
Angreifer zwei äußerliche Umstände für sich nutzen, um ein Vorurteil
zu schaffen und Unklarheit in die wirklichen Fragen zu bringen. Sie
haben den gewaltigen Vorteil, Indien zu einer Zeit anzugreifen, da
es im Staub liegt, die indische Zivilisation materiell eine
Niederlage, ja ihren Zusammenbruch erlitten zu haben scheint. Indem
sie aus diesem vorübergehenden Vorteil Kraft ziehen, können sie es
sich erlauben, großartig und großzügig Mut zur Schau zu stellen,
indem sie den umliegenden Staub und Schlamm mit ihren Hufen auf die
kranke und verwundete Löwin sprengen, die in den Netzen der Jäger
hängt, und die Welt zu überzeugen versuchen, daß die Löwin nie
irgendwelche Kraft und Tugend in sich hatte. Jenes ist eine leichte
Aufgabe in diesem Zeitalter der edlen Kultur der Vernunft, des
Mammon und der Naturwissenschaft im Dienste des Molochs, einem
Zeitalter, in dem das eherne Idol der großen Göttin Erfolg wie nie
zuvor von kultivierten Menschen angebetet wird. Aber sie haben
ebenfalls den noch größeren Triumph, Indien der Welt zu einer Zeit
des Niedergangs seiner Zivilisation zu präsentieren, wo es nach
mindestens zweitausend Jahren der brillantesten und vielseitigsten
kulturellen Aktivität für einer Zeitlang alles verlor außer der
Erinnerung an seine Vergangenheit und seinen lange niedergedrückten
und verdunkelten, aber stets lebendigen und jetzt stark
wiederauflebenden religiösen Geist.
Ich kam an anderer Stelle
auf die Bedeutung dieses Versagens und vorübergehenden Niedergangs
zu sprechen. Vielleicht ist es notwendig, daß ich mich noch näher
damit befasse, da dieser Punkt als Einwand gegen den Wert indischer
Kultur und indischer Spiritualität erhoben wurde. Im Moment wird es
genügen zu sagen, daß sich Kultur nicht an materiellem Erfolg messen
läßt; noch weniger eignet sich Spiritualität für jenen Prüfstein.
Das philosophische, ästhetische, poetische, intellektuelle
Griechenland versagte und fiel, während das gedrillte und
militaristische Rom triumphierte und siegte, aber niemand würde
deshalb auch nur im Traum dem siegreichen Imperium eine größere
Zivilisation und höhere Kultur zuschreiben. Die religiöse Kultur
Judäas wird nicht mehr widerlegt oder in ihrem Wert gemindert durch
die Zerstörung des jüdischen Staates, als sie umgekehrt bewiesen
wird und größeren Wert erhält durch die kommerzielle Fähigkeit, die
das jüdische Volk in der Diaspora an den Tag legte. Aber ich räume
ein, wie das alte indische Denken es tat, daß materielle und
wirtschaftliche Begabung und Prosperität ein notwendiger, obgleich
nicht der höchste oder wesentlichste Teil der Gesamtanstrengung
einer menschlichen Zivilisation sind. In dieser Hinsicht kann Indien
über die lange Periode seiner kulturellen Aktivität Ebenbürtigkeit
mit jedem alten oder mittelalterlichen Land beanspruchen. Kein Volk
erreichte vor der modernen Zeit eine größere Blüte von Reichtum,
kommerziellem Wohlstand, materieller Ausstattung, gesellschaftlicher
Organisation. Dies ist erwiesen durch Geschichte, alte Dokumente,
zeitgenössische Zeugen; sie zu verleugnen, zeugt von einer
einzigartigen Voreingenommenheit und Verdunkelung der Schau, liest
phantasievoll – oder ist es phantasielos? – fälschlicherweise
gegenwärtige Aktualität in vergangene Wirklichkeit hinein. Der Glanz
asiatischen und nicht am wenigsten indischen Wohlstands, die
Reichtümer von Ormuz und von Indien, die barbarischen Tore dick
besetzt mit Gold barbaricae postes squalentes auro, wurden dereinst
vom weniger opulenten Westen als ein Zeichen von Barbarei
gebrandmarkt. Die Umstände haben jetzt eine seltsame Wende genommen:
Die opulente Barbarei und eine viel weniger künstlerische
Zurschaustellung von Reichtum finden sich in London, New York und
Paris, während seine Mittellosigkeit und das Elend seiner Armut
Indien als Beweis für die Wertlosigkeit seiner Kultur an den Kopf
geworfen werden.
Indiens alte und
mittelalterliche politische, administrative, militärische und
ökonomische Organisation war keine geringe Errungenschaft; diese
historische Tatsache bleibt bestehen, und man kann es ihr
überlassen, die Unwissenheit des Ungeschulten und die Rhetorik des
kritischen Journalisten oder parteiischen Politikers zu widerlegen.
Ohne Zweifel gab es ein Element des Versagens und Mangels, was fast
unvermeidlich ist in der Gesamtheit eines Problems in so großem
Rahmen und unter den damaligen Bedingungen. Wollte man dies aber
überbewerten und zu einem Anklage-Punkt gegen Indiens Zivilisation
machen, so wäre das eine unvergleichlich strenge Kritik, der nur
wenige Zivilisationen standhalten könnten, wenn man ihre Gang bis
zum Ende verfolgt. Versagen am Schluss, gewiss, wegen des
Niedergangs seiner Kultur, aber nicht als Resultat seiner
wertvollsten Elemente. Eine spätere Verdunkelung der wesentlicheren
Bestandteile seiner Zivilisation widerlegt nicht deren
ursprünglichen Wert. Die indische Zivilisation ist hauptsächlich an
der Kultur und Größe ihrer Jahrtausende zu messen, nicht an der
Unwissenheit und Schwäche einiger Jahrhunderte. Eine Kultur ist zu
messen erstens an ihrem wesenhaften Geist, dann an ihren besten
Leistungen und schließlich an ihrer Kraft, zu überleben, zu erneuern
und sich anzupassen an neue Phasen der ständigen Bedürfnisse der
Menschen. In Armut, Konfusion und Zerrüttung einer Periode
vorüber-gehenden Niedergangs weigert sich das Auge des feindseligen
Kritikers, die rettende Seele des Guten zu sehen oder zur Kenntnis
zu nehmen, die diese Zivilisation immer noch am Leben hält und eine
starke und lebendige Rückkehr zu ihrem ständigen Ideal verheißt.
Ihre hartnäckig elastische Fähigkeit zu Erneuerung, ihr altes
grenzenloses Anpassungsvermögen sind wieder aktiv; sie befindet sich
nicht einmal mehr nur in der Defensive, sondern geht selbstsicher
zum Angriff über. Nicht bloß Überleben, sondern Sieg und Eroberung
sind die Verheißung ihrer Zukunft.
Aber unser Kritiker leugnet
nicht lediglich das edle Ziel und die Größe des Geistes der
indischen Zivilisation, die zu hoch stehen, um einem Angriff dieser
unwissenden und voreingenommenen Art eine Blöße zu bieten. Er stellt
ihre Leitgedanken in Frage, verleugnet ihren praktischen Wert fürs
Leben, diskreditiert ihre Früchte, ihre Wirksamkeit, ihren
Charakter. Hat diese Diskreditierung irgendeinen kritischen Wert,
oder ist es nur ein durch das Temperament bedingter Ausdruck des
Missverstehen, das gegenüber einer ganz anderen Lebensanschauung und
einer diametral entgegengesetzten Bewertung der höchsten Sinngehalte
und Realitäten unserer Art nur natürlich ist? Wenn wir den Charakter
der Attacke und ihre Formen betrachten, werden wir sehen, daß sie
auf nichts mehr hinausläuft als auf Verdammung, ausgesprochen vom
positivistischen Geist, der an den normalen Lebenswerten hängt, über
die ganz andersartigen Wertnormen einer Kultur, die über das
gewöhnliche Leben des Menschen hinaus blickt, auf etwas Größeres
hinter ihm hinweist und es zu einem Durchgang zu etwas Ewigen,
Dauerhaften und Unendlichen macht. Indien, so wird uns mitgeteilt,
habe keine Spiritualität, - eine ungewöhnliche Entdeckung! Vielmehr
ist es ihm gelungen, so möchte es scheinen, die Keime aller gesunden
und kräftigen Spiritualität zu töten. Archer gibt dem Wort offenbar
seinen eigenen Sinn, einen neuen, interessanten und sehr westlichen
Sinn. Spiritualität bedeutete bislang eine Anerkennung von etwas
Größerem als mentalem Geist und Leben, die Sehnsucht nach einem
Bewusstsein, das rein, groß und göttlich ist, jenseits unserer
normalen mentalen und vitalen Natur, ein Aufstreben der Seele im
Menschen, heraus aus der Kleinheit und Gebundenheit unserer niederen
Teile zu einer größeren Sache hin, die in ihm verborgen liegt. Dies
zumindest ist die Idee, die Erfahrung, die den ureigentlichen Kern
des indischen Denkens bildet. Aber der Rationalist glaubt nicht an
den Geist in diesem Sinn. Leben, menschliche Willenskraft und
Vernunft sind seine höchsten Gottheiten. Der Spiritualität – es wäre
einfacher und logischer, gewesen, das Wort zurückzuweisen, wenn die
Sache, auf der sie beruht, bestritten wird – muß dann eine andere
Bedeutung gegeben werden, d.h. eine hohe Leidenschaft und
Anstrengung der Emotionen, das Willens und der Vernunft, die auf
das Endliche gerichtet sind, nicht auf das Unendliche, auf
vergängliche Dinge, nicht auf das Ewige, auf sterbliches Leben,
nicht auf eine höhere Realität, die die oberflächlichen
Erscheinungen des Lebens übersteigt und ihnen zugrunde liegt. Im
Denken und Leiden, die das ideale Antlitz Homers säumen und
zerfurchen, dort, so wird uns mitgeteilt, liege die gesunden,
männliche Spiritualität. Die Stille und das Mitgefühl des Buddha,
der siegreich ist über Unwissenheit und Leiden, die Meditation des
Denkers, der in Trance Zwiesprache mit dem Ewigen hält, über das
Suchen des Denkens hinausgehoben in eine Identität mit höchstem
Licht, die ekstatische Freude des Heiligen, der durch Liebe, im
reinen Herzen eins ist mit der transzendenten und universalen Liebe,
der Wille des Karmayogin, der über egoistisches Begehren und
Leidenschaft hinausgehoben ist in die Unpersönlichkeit des
göttlichen und universalen Willens, diese Dinge, denen Indien den
höchsten Wert gegeben hat und welche die große Bestrebung seiner
bedeutendsten Persönlichkeiten waren, sie sind nicht gesund, nicht
maskulin. Dies, so mag uns erlaubt sein zu sagen, ist eine sehr
westliche und moderne Auffassung von Spiritualität. Homer,
Shakespeare, Raphael, Spinoza, Kant, Karl der Große, Abraham
Lincoln, Lenin, Mussolini, sie alle – so könnten wir vorschlagen,
sollen hinfort nicht nur als große Dichter, Künstler oder Helden von
Gedanken und Tat gelten, sondern als unsere Vorbilder und Beispiele
der Spiritualität, und nicht Buddha, Christus, Chaitanya, der
Heilige Franziskus, Ramakrishna; sie sind entweder halb barbarische
Orientalen oder in Mitleidenschaft gezogen von dem femininen Wahn
einer orientalischen Religion. Der Eindruck, der bei einem Inder
hervorgerufen wird, ähnelt der Reaktion, die ein kultivierter
Intellektueller haben könnte, wenn man ihm sagte, daß gutes Kochen,
gutes Ankleiden, gutes Bauen, gutes Unterrichten die wahre Schönheit
seien und die Beschäftigung damit der rechte, gesunde, männliche
ästhetische Kult, während Literatur, Akulptur und Malerei nur
nutzlose Papierkritzelei seien, ein sinnloses Steinklopfen und
verweichlichtes Leinwandbespritzen. Vauban, Dr. Parr, Vatal und Beau
Brummel sind dann die wahren Helden künstlerischer Schöpfung und
nicht Leonardo da Vinci, Michelangelo, Sophokles, Dante, Shakespeare
oder Rodin. Ob Archers Epithete und Anklagen gegen die indische
Spiritualität diesen Vergleich aushalten, mögen die Weisen
entscheiden. Indessen sehen wir den Gegensatz der Standpunkte und
beginnen, die innere Natur des Unterschiedes zwischen dem Westen und
Indien zu verstehen.
Dies ist der Angriffspunkt
der Anklage gegen den praktischen Wert in indischer Philosophie, daß
sie sich vom Leben, der Natur, dem vitalen Willen und der
persönlichen. Anstrengung des Menschen auf der Erde abwende. Sie
leugne allen Wert am Leben. Sie führe nicht hin zum Studium der
Natur, sondern weg von ihm. Sie verbanne alle Willensindividualität.
Sie predige die Unwirklichkeit der Welt, die Loslösung von irdischen
Interessen, die Unwichtigkeit des Augenblickslebens im Vergleich zur
endlosen Kette der vergangenen und zukünftigen Existenzen. Sie sei
eine entkräftende Metaphysik, verwickelt in falsche Vorstellungen
von Pessimismus, Asketentum, Karma und Reinkarnation, - alles
Gedanken, die von fataler Konsequenz für jenes höchste spirituelle
Gut sind, die Willensindividualität. Dies ist eine grotesk
übertriebene und falsche Vorstellung von indischer Kultur und
Philosophie, zuwegegebracht dadurch, daß nur eine Seite des
indischen Geistes präsentiert wird in Farben einer düsteren Tönung,
in einem Stil, den Archer wohl der modernen meistern des Realismus
entlehnt hat. Aber in Substanz und Geist ist es eine recht korrekte
Darlegung der Vorstellungen, die der europäische Verstand sich in
der Vergangenheit von dem Charakter indischen Denkens und indischer
Kultur gebildet hat, manchmal aus Unwissenheit, manchmal gegen
besseres Wissen. Eine Zeitlage gelang es ihm sogar, einen starken
Schatten dieses Irrtums auf den Verstand kultivierter Inder zu
werfen. Am besten beginnt man damit, daß man die Farbtöne des Bildes
korrigiert; sobald das geschehen ist, können wir besser den
Widerstand von Mentalität beurteilen, der Wurzel der Kritik liegt.
Wenn man sagt, daß die
indische Philosophie vom Studium der Natur hinweggeführt habe, so
heißt dies, daß man eine Nicht-Tatsache konstatiert und die
bemerkenswerte Geschichte der indischen Zivilisation ignoriert. Wenn
wir mit Natur physische Natur meinen, so ist die schlichte Wahrheit
die, daß keine Nation vor der modernen Zeit wissenschaftliche
Forschung so weit vorangetrieben und mit derartig bemerkenswertem
Erfolg betrieben hat wie das alte Indien. Dies ist eine Wahrheit,
die für jedermann an Indiens Geschichte leicht verifiziert werden
kann; sie wurde mit großem Aufwand und reichem Detail von
hervorragenden indischen Gelehrten und Wissenschaftlern
herausgearbeitet, bereits gewusst und anerkannt von europäischen
Gelehrten, die sich die Mühe gemacht hatten, eine vergleichende
Studie dieses Gegenstands zu unternehmen. Nicht nur in Mathematik,
Astronomie, Chemie Medizin, Chirurgie, allen Zweigen physikalischen
Wissens, die in alter Zeit praktiziert wurden, befand sich Indien im
ersten Glied, sondern es war, zugleich mit den Griechen, Lehrmeister
der Araber, von denen Europa die verlorene Gewohnheit
wissenschaftlicher Forschung zurückgewann und jene Basis erhielt,
von der die moderne Naturwissenschaft ihren Ausgang nahm. Auf vielen
Gebieten hat Indien Anspruch auf Erstentdeckung, - wir nennen nur
zwei herausragende Beispiele aus einer Vielzahl: das Dezimalsystem
in der Mathematik und in der Astronomie die Erkenntnis, daß die Erde
ein sich bewegender Körper ist, die Erde bewegt sich, sie steht nur
scheinbar still, sagte der indische Astronom viele Jahrhunderte vor
Galileo. Diese große Entwicklung wäre kaum möglich gewesen in einer
Nation, deren Denker und Gelehrte durch metaphysische Tendenzen vom
Studium der Natur weggeführt wurden. Ein bemerkenswertes
Charakteristikum des indischen Mentals war die wache Aufmerksamkeit
gegenüber den Dingen des Lebens, die Disposition, seine
herausragenden Tatsachen präzise zu beobachten, zu systematisieren
und für all seine Zweige eine Wissenschaft, Shastra, zu begründen,
ein Ordnungssystem zu konzipieren. Dies ist zumindest ein guter
Anfang der naturwissenschaftlichen Bestrebung und nicht das Merkmal
einer Kultur, die nur zu substanzloser Metaphysik fähig ist.
Es trifft durchaus zu, daß
die indische Naturwissenschaft um das 13. Jahr hundert herum abrupt
zum Stillstand kam und daß eine Phase der Dunkel heit und
Inaktivität sie davon abhielt, weitere Fortschritte zu erzielen oder
sogleich an der weiteren modernen Entwicklung wissenschaftlicher
Erkenntnis Teil zu haben. Aber dies war nicht zurückzuführen auf ein
Anwachsen oder eine Unduldsamkeit der metaphysischen Tendenz, die
den nationalen Geist von der physischen Natur weggezogen hätte. Es
war vielmehr Teil eines allgemeinen Erstarrens neuer intellektueller
Tätigkeit, denn auch die Entwicklung der Philosophie kam fast zur
selben Zeit zum Stillstand. Die letzten großen originalen Versuche
spiritueller Philosophie datieren nur ein oder zwei Jahrhunderte
später als die Namen der letzten großen originalen Wissenschaftler.
Es trifft auch zu, daß die indische Metaphysik nicht versuchte, wie
die moderne Philosophie es ohne Erfolg tat, den Daseinsgrund
hauptsächlich durch das Licht der Wahrheiten der physischen Natur zu
erfassen. Dieses allte Wissen gründete sich mehr auf innere
experimentelle Psychologie und profunde psychische Wissenschaft,
Indiens besondere Stärke. Auch Erforschung des Mentals und unserer
inneren Kräfte ist sicher Studium der Natur,- hier war Indiens
Erfolg größer als in der materiellen Erkenntnis. Dies mußte Indien
unausweichlich tun, da es ihm bei seiner Suche um den spirituellen
Daseinsgrund ging; auch kann eine wirklich große und dauerhafte
Philosophie nur auf dieser Basis möglich sein. Ferner trifft zu, daß
die Harmonie, die Indien in seiner Kultur zwischen philosophischer
Wahrheit und der Wahrheit von Psychologie und Religion begründete,
nicht im selben Grade auf die Wahrheit physischer Natur ausgeweitet
wurde; die Naturwissenschaft war zu jener Zeit noch nicht zu den
großen universalen Verallgemeinerungen gelangt, die eine solche
Synthese ermöglicht hätten, wie es jetzt der Fall ist.
Nichtsdestoweniger hatte das indische Mental von Anfang an, schon
seit dem Denken der Veden, erkannt, daß dieselben allgemeinen
Gesetze und Kräfte im spirituellen, psychologischen und physischen
Daseinsbereich gelten. Es entdeckte auch die Allgegenwart des
Lebens, erklärte die Evolution der Seele in der Natur, von der
Pflanze und dem Tier zur menschlichen Form, legte auf der Basis
philosophischer Intuition und spiritueller und psychologischer
Erfahrung viele der Wahrheiten dar, die die moderne Wissenschaft
ihrerseits durch eigene Erkenntnismethode neu bestätigt. Auch diese
Dinge waren nicht das Resultat einer fruchtlosen und leeren
Metaphysik, nicht die Erfindungen törichter egozentrischer Träumer.
In gleicher Weise ist es
falsch, wenn man sagt, daß indische Kultur allen Wert am Leben
leugne, sich von irdischen Interessen loslöse und die Unwichtigkeit
des Lebens im Augenblick betont. Wenn man diese europäischen
Kommentare liest, könnte man glauben, daß das gesamte indische
Denken aus der nihilistischen Schule des Buddhismus und dem
monistischen Illusionismus von Shankara bestand und daß alle
indische Kunst, Literatur und alles gesellschaftliche Denken nichts
anderes waren als die Dokumentierung ihres Widerwillens gegen die
Falschheit und Nichtigkeit der Dinge. Wir können aber nicht
schlussfolgern, daß diese Dinge, weil sie das ausmachen, was der
durchschnittliche Europäer über Indien gehört hat oder was den
europäischen Gelehrten am meisten in seinen Gedanken beschäftigt
oder beeindruckt, ganz gleich wie groß ihr Einfluß auch gewesen sein
mag, die Gesamtheit des indischen Denkens bildeten. Die alte
Zivilisation Indiens gründete sich sehr deutlich auf vier Interessen
des Menschen: 1. Begehren und Genuss, 2. materielle, wirtschaftliche
und andere Ziele und Erfordernisse des Mentals und Körpers, 3.
ethisches Verhalten und das rechte Gesetz individuellen und
gesellschaftlichen Lebens, und schließlich 4. spirituelle Befreiung:
kama, artha, dharma, moksa. Die Aufgabe von Kultur und
gesellschaftlicher Organisation war, diese Dinge im Menschen zu
lenken, zu befriedigen, zu fördern und eine Harmonie der Formen und
Motive heranzubilden. Außer in sehr seltenen Fällen mußte die
Erfüllung der drei weltlichen Ziele dem anderen vorangehen; Fülle
des Lebens mußte der Überwindung des Lebens vorausgehen. Der
Verpflichtung gegenüber der Familie, der Gemeinschaft und den
Göttern konnte nicht entronnen werden. Der Erde mußte genüge getan
werden und das Ralative sein Spiel haben, selbst wenn es jenseits
davon die Herrlichkeit des Himmels oder den Frieden des Absoluten
gab. Es wurde nicht gepredigt. Daß alle und jeder in die Höhle und
Einsiedelei eilen sollten.
Der symmetrische Charakter
des alten indischen Lebens und die lebendige Vielfalt seiner
Literatur waren unvereinbar mit irgendeiner ausschließlichen
Ausrichtung auf das Jenseitige. Die große Masse der
Sanskrit-Literatur ist eine Literatur vom menschlichen Leben.
Gewisse philosophische und religiöse Schriften sind dem Rückzug von
ihm gewidmet, aber selbst diese verachten in der Regel nicht seinen
Wert. Wenn der indische Verstand das größte Gewicht auf spirituelle
Befreiung legte – ganz gleich, was die positivistische Einstellung
sagen mag, eine spirituelle Befreiung dieser oder jener Art ist die
höchste Möglichkeit für den menschlichen Geist –, so war er nicht
allein daran interessiert. Er behielt in gleicher Weise die Ethik im
Auge, das Recht, Politik, Gesellschaft, die Wissenschaften, Künste
und Handwerk, alles was zum menschlichen Leben gehört. Er dachte
tief und gründlich über diese Dinge nach und schrieb über sie
kraftvoll und kenntnisreich. Welch ein feines Monument politischen
und administrativen Genies ist der Sukra-Niti, um nur ein Beispiel
zu nennen, und welch ein Spiegel der praktischen Organisation eines
großen zivilisierten Volkes! Indische Kunst war nicht immer bloß
sakral. Sie schien dies nur zu sein, weil ihre größten Werke in den
Tempeln und Höhlenkathedralen überlebten. Wie die alte Literatur
bezeugt und wie wir von den Rajput- und Mogul-Gemälden ersehen
können, war sie ebenso dem Hof, der Stadt, den kulturellen
Vorstellungen und dem Leben des Volkes gewidmet, wie Tempel, Kloster
und deren Motiven. Die indische Ausbildung und Erziehung von Frauen
ebenso wie von Männern war reicher, umfassender und vielseitiger als
jedes andere Erziehungssystem vor der Moderne. Die Dokumente, die
diese Dinge beweisen, stehen jetzt jedem zur Verfügung, der sie
einsehen möchte. Es ist an der Zeit, daß dieses Papageiengeschwätz
vom unpraktischen, metaphysischen, quietischen, antivitalen
Charakter der indischen Zivilisation auf hört und einer zutreffenden
und aufgeschlossenen Bewertung Platz macht. Ganz sicher hat die
indische Kultur immer jenem im Menschen den höchsten Wert gegeben,
das über die irdischen Belangen hinausgeht. Sie hat das Ziel einer
höchsten und schwierigen Selbsttranszendenz als Gipfel der
menschlichen Anstrengung hochgehalten. Das spirituelle Leben war in
ihrer Sicht etwas Höheres als das Leben äußerer Macht und äußeren
Genusses, der Denker größer als der Mann der Tat, der spirituelle
Mensch größer als der Denker. Die Seele, die in Gott lebt, ist
vollkommener als die Seele, die nur äußeren Mental oder nur für die
Ansprüche und Freuden denkender und lebender Materie lebt. Hier an
dieser Stelle kommt der Unterschied herein zwischen der typischen
westlichen und der typischen indischen Mentalität. Der Westen hat
den religiösen Geist mehr erworben als ihn von Natur besessen, und
er hat diesen Erwerb stets mit einer gewissen Leichtigkeit getragen.
Indien hat stets an verborgene Welten geglaubt, von denen die
materielle Welt nur ein Vorzimmer ist. Es sah stets ein Selbst in
uns, das größer als das mentale und vitale Selbst ist, größer als
das Ego. Stets hat es seinen Intellekt und sein Herz vor einem nahen
und gegenwärtigen Ewigen gebeugt, in dem das zeitliche Wesen
existiert und dem es sich im Menschen zunehmend der Transzendenz
zuwendet. Die Empfindung des bengalischen Dichters, des wunderbaren
Sängers und ekstatischen Anhängers der Göttlichen Mutter, der da
sagt:
Als welch ein reiches Gut liegt der Mensch hier brach!
Bestellte man es, so käme eine goldene Ernte.
drückt das wirkliche indische Gefühl vom menschlichen Leben aus.
Aber am meisten fühlt es sich zu den höheren spirituellen
Möglichkeiten hingezogen, die der Mensch allein unter irdischen
Wesen besitzt. Die alte arische Kultur erkannte alle Möglichkeiten
des Menschen an, stellte jenes aber an die Spitze und ordnete das
Leben entsprechend einer Stufenleiter in ihrem System der vier
Klassen und der vier Lebensalter. Der Buddhismus brachte als erster
eine übertriebene gewaltige Erweiterung des asketischen Ideals und
des Impulses zum Klosterleben, beseitigte die Zwischenstufen und
störte das Gleichgewicht. Sein siegreiches System ließ nur noch zwei
Stufen übrig, die des Haushälters und des Asketen, des Mönchs und
des Laien, ein Resultat, das bis zum heutigen Tag andauert. So sehen
wir, daß der Buddhismus aufgrund dieser Störung des Dharma im Vishnu
Purana heftig unter dem Schleier einer Apologie angegriffen wird,
denn am Ende schwächte er das Leben der Gesellschaft durch seine
verkrampfte Übertreibung und sein starres System von Gegensätzen.
Aber auch der Buddhismus hatte eine andere Seite, eine Seite, die
auf Handlung und Schöpfung gerichtet war, und gab dem Leben ein
neues Licht, eine neue Bedeutung und eine sittliche und ideale
Kraft. Danach kam der erhabene Illusionismus des Shankara gegen Ende
der beiden größten bekannten Jahrtausende indischer Kultur. Das
Leben war hinfort zu sehr abgewertet als Unwirklichkeit als relative
Erscheinungsform, als etwas, das am Ende nicht des Lebens wert ist,
nicht wert unserer Zustimmung und des Beharrens auf seinen Motiven.
Aber dieses Dogma fand nicht überall Anerkennung, noch wurde es ohne
Kampf aufgenommen; Shankara wurde von seinen Gegnern sogar als
heimlicher Buddhist denunziert. Der spätere indische Geist war von
seinem Gedanken der Maya stark beeindruckt; aber das allgemeine
Denken und Fühlen wurde nie ganz von ihm geformt. Die Religionen der
emotionalen Gottanbetung, die im Leben ein Spiel oder die Lila
Gottes sehen und nicht eine halb düstere, halb strahlende Illusion,
welche die weiße Stille der Ewigkeit entstellt, waren von
unmittelbar wachsendem Einfluss. Wenn sie dem herben Ideal auch
nicht entgegenwirkten, so humanisierten sie es doch. Erst in
jüngster Zeit akzeptierte das kultivierte Indien die Auffassungen
englischer und deutscher Gelehrter, hielt eine Zeitlang Shankaras
Mayavada für die eine höchste Sache, wenn nicht gar für unsere
gesamte Philosophie, gab ihr den Rang exklusiver Spitzenstellung.
Aber auch gegen jene Tendenz gibt es jetzt eine starke Reaktion, der
es nicht darum geht, Geist ohne Leben durch Leben ohne Geist zu
ersetzen, sondern die einen spirituellen Besitz von Mental. Leben
und Materie anstrebt. Und doch ist es wahr, daß das asketische
Ideal, das in der alten Dynamik unserer Kultur die ansehnliche
Turmspitze war, die in des ewige Sein aufstieg, in jüngerer Zeit zu
ihrem kopflastigen Gewölbe wurde und dazu neigte, unter dem Gewicht
seiner kahlen und imposanten Erhabenheit den Rest des Gebäudes zu
erdrücken.
Aber auch hier sollten wir
zur rechten Perspektive gelangen, fern aller Übertreibung und
falscher Betonung. Archer zieht Karma und Wiedergeburt in seine
Liste antivitaler indischer Konzepte hinein. Dies ist unsinnig, es
ist ein törichtes Missverständnis, wenn man von der Wiedergeburt als
von einer Doktrin spricht, die die Unwichtigkeit des
augenblicklichen Lebens im Vergleich zur endlosen Kette vergangener
und zukünftiger Existenzen predige. Die Lehre von Wiedergeburt und
Karma sagt, daß die Seele eine Vergangenheit hat, die ihre
gegenwärtige Geburt und ihr gegenwärtiges Leben gestaltete. Sie hat
eine Zukunft, die unser gegenwärtiges Handeln bestimmt. Unsere
Vergangenheit nahm die Form wiederholter irdischer Geburten an,
ebenso wie unsere Zukunft dies tun wird, und Karma, unser eigenes
Handeln, ist die Macht, die durch ihre Kontinuität und Entwicklung
als subjektive und objektive Kraft die gesamte Natur und Möglichkeit
dieser wiederholten Existenzen bestimmt. Wir findet hier nichts, was
die Bedeutung des gegenwärtigen Leben abwerten würde. Vielmehr
erhält es durch diese Doktrin erstaunliche Perspektiven, und der
Wert von persönlicher Anstrengung und Handlung wird gewaltig erhöht.
Die Natur der gegenwärtigen Handlung ist von unschätzbarer
Bedeutung, weil sie nicht nur unsere unmittelbare, sondern auch
unsere spätere Zukunft bestimmt. Auch findet sich, in der indischen
Literatur beharrlich wiederkehrend und tief verwurzelt im Mental des
Volkes, der Gedanke einer voll konzentrierten gegenwärtigen Handlung
und Energie, tapasya, als einer wunderbaren alles vollbringenden
Kraft zur Erlangung unserer Wünsche, ob es sich um die materiellen
oder um die spirituellen Wünsche des menschlichen Willens handelt.
Ohne Zweifel verliert unser gegenwärtiges Leben die exklusive
Bedeutung, die wir ihm geben, wenn wir es nur als einen flüchtigen
Augenblick in der Zeit betrachten, der sich nie wiederholen wird,
unsere einzige Möglichkeit und Gelegenheit, ohne ein späteres Leben
danach. Aber ein enges übertriebenes Betonen des Gegenwärtigen
schließt die menschliche Seele im Gefängnis des Augenblicks ein: Es
mag dem Handeln eine fiebrige Intensität geben, ist aber der Ruhe,
Freude und Größe des Geistes abträglich. Ohne Zweifel gibt auch der
Gedanken, daß unsere gegenwärtigen Leiden das Resultat unserer
vergangenen Handlungen sind, dem indischen Mental Ruhe, Ergebung,
Passivität, die zu verstehen oder zu tolerieren der ruhelosen
westlichen Intelligenz schwer fällt. Dies kann zu einer Zeit großer
nationaler Schwäche, Depression und des Missgeschicks zu einem
quietistischen Fatalismus entarten, der das Feuer der
Erneuerungsbemühung löscht. Aber dies ist nicht sein unvermeidlicher
Gang, noch ist es derjenige, der ihm in den Dokumenten der
mächtigeren Vergangenheit unserer Kultur zugeschrieben wird. Dort
wirt von Aktion gesprochen, von tapasya. Auch nahm dieser mit Zeit
wachsende Glaube noch eine weitere Wende in Form des buddhistischen
Dogmas von der Abfolge der Wiedergeburten als einer kette von Karma,
der die Seele entgehen und in die ewige Stille entrinnen muß. Dieser
Gedanke hat den Hinduismus stark beeinflusst. Aber was immer
bedrückend an ihm ist, gehört nicht eigentlich der Doktrin von der
Wiedergeburt an, sondern anderen Elementen, die vom vitalistischen
Denken Europas als asketischer Pessimismus gebrandmarkt wurden.
Pessimismus ist keine
besondere Eigenart des indischen Mentals. Er war ein Element im
Denken aller fortgeschrittenen Zivilisationen. Er ist das Zeichen
einer Kultur, die bereits alt ist, die Frucht eines Bewusstseins,
das lange gelebt, viel erfahren, das Leben erprobt hat und es voller
Leiden fand, Freude gehabt und Leistung erbracht hat und fand, daß
aller Nichtigkeit und Plage des Geistes ist und daß es nichts Neues
mehr unter der Sonne gibt oder, falls es so etwas gibt, die Novität
doch nur einen Tag dauert.
Pessimismus war in Europa nicht minder verbreitet als in Indien, und
es ist gewiß ungewöhnlich, hier sehen zu müssen, wie ausgerechnet
der Materialist gegen die indische Spiritualität Anklage erhebt, sie
mindere die Werte des Daseins. Denn was könnte bedrückender sein als
die materialistische Anschauung von der rein physischen,
vorübergehenden Natur des menschlichen Lebens? Selbst in den
extremsten asketischen Dokumenten des indischen Geistes findet sich
nichts der schwarzen Finsternis gewisser Arten von europäischem
Pessimismus Vergleichbares, eine Stadt von schrecklicher Nacht ohne
Freude hier oder Hoffnung jenseits, und nichts wie die trauernde und
zurückschreckende Haltung gegenüber dem Tod und der Auflösung des
Körpers, die sich durch die westliche Literatur zieht. Der Anklang
von asketischem Pessimismus, der sich oft im Christentum findet, ist
eindeutig westlicher Prägung: denn er fehlt in den Lehren Christi.
Die mittelalterliche Religion mit ihrem Kreuz, ihrer Erlösung durch
Leiden, ihrer vom Teufel und vom Fleisch geplagten Welt und den
Flammen ewiger Hölle, die auf den Menschen jenseits des Grabes
warten, hat einen Zug von Schmerz und Gräuel, der dem indischen
Mental, religiöser Terror gewiß unbekannt ist, fern liegt. Das
Leiden der Welt ist da, aber es verflüchtigt sich zu einer Wonne
spirituellen Friedens oder spiritueller Ekstase jenseits der
Demarkationslinie des Leidens. Buddhas Lehre legte großen Nachdruck
auf das Leiden und die Vergänglichkeit der Dinge, aber das
buddhistische Nirvana, das durch den heroischen Geist moralischer
Selbstbezwingung und ruhiger Weisheit gewonnen wird, ist ein Zustand
unsagbarer Stille und Freude, der nicht nur einigen wenigen offen
steht, wie die christlichen Himmel, sondern allen, und der sehr
verschieden ist von der völligen Auslöschung, die die mechanische
Befreiung von unserem Schmerz und Kampf ist, dem kläglichen Nirvana
des westlichen Pessimisten, dem abrupten Auslaufen-aller Dinge des
Materialriste. Selbst der Illusionismus predigte nicht eine
Botschaft des Leidens, sondern die letztliche Unwirklichkeit von
Freude und Kummer und dem ganzen Weltdasein. Er gesteht die
praktische Gültigkeit des Lebens ein und läßt dessen Werte jenen,
die in der Unwissenheit leben. Und wie alles indische Asketentum
stellt er dem Menschen die Möglichkeit einer größeren Anstrengung
vor Augen, eine erleuchtete Konzentration von Wissen, einen
mächtigen Drang des Willens, durch die er zu einem absoluten Frieden
oder einer absoluten Wonne aufsteigen kann. Ein nicht unwürdiger
Pessimismus existierte hinsichtlich des normalen menschlichen
Lebens, so wie es ist, ein tiefes Gefühl seiner Unvollkommenheit,
ein Widerwille gegen seine nichtige Finsternis, Beschränktheit und
Unwissenheit. Aber ein unbezwingbarer Optimismus bezüglich seiner
spirituellen Möglichkeit war die andere Seite dieser Stimmung. Wenn
er nicht an das Ideal eines gewaltigen materiellen Fortschritts der
Menschheit oder einer Vervollkommnung des normalen Menschen im
Bereich der Erde glaubte, so glaubte er doch an einen sicheren
spirituellen Fortschritt für jeden Einzelnen und eine letztliche
Vollkommenheit, die hinausgehoben ist über jene Ebene, wo er den
Schlägen des Lebens ausgesetzt ist. Und dieser Pessimismus bezüglich
des Lebens ist nicht die einzige Not des indischen religiösen
Geistes. Seine populärsten Formen akzeptieren das Leben als ein
Spiel Gottes und sehen jenseits unserer gegenwärtigen Bedingungen
für jeden Menschen die ewige Nähe zum Göttlichen. Ein leuchtender
Aufstieg zur Gottheit wurde stets als eine Erfüllung angesehen, die
ganz in der Reichweite des Menschen liegt. Dies kann man schwerlich
eine beidrückende oder pessimistische Daseinstheorie nennen.
Es kann keine große und vollständige Kultur geben ohne ein Element
des Asketentums in ihr; denn Askese bedeutet die Selbstverleugnung
und Selbstbezwingung, durch die der Mensch seine niederen Impulse
zügelt und sich zu größeren Höhen seiner Natur erhebt. Indisches
Asketentum ist nicht eine traurige Botschaft des Leidens oder eine
schmerzliche Geißelung des Fleisches in ungesunder Buße, sondern
eine noble Bemühung um höhere Freude und absoluten Besitz des
Geistes. Eine große Freude an der Selbstbezwingung, eine stille
Freude im inneren Frieden und die kraftvolle Freude durch höchste
Selbstüberwindung liegen an der Wurzel seiner Erfahrung. Nur ein
Mental, das vom Fleisch betört ist oder zu sehr am äußeren Leben und
seinen ruhelosen Anstrengungen und unbeständigen Befriedigungen
hängt, kann die Nobilität oder idealistische Höhe der asketischen,
Bemühung leugnen. Aber es gibt die Übertreibungen und Abwandlungen,
denen alle Ideale unterliegen. Jene Ideale, die für die Menschheit
am schwierigsten sind, leiden am meisten darunter, und so kann
Askese zu einer fanatischen Selbstquälerei werden, einer großen
Unterdrückung der Natur, einer Weltflucht aus Erschöpfung oder einem
trägen Ausweichen gegenüber dem Lebensproblem und einem schwachen
Zurückschaudern vor der Anstrengung, die von uns als Menschen
verlangt wird. Wenn Askese praktiziert, wird, nicht von den relative
wenigen, die dazu berufen sind, sondern wenn sie in ihrer extremen
Form allen gepredigt wird und von Tausenden von Nicht-Qualifizierten
übernommen wird, so können ihre Werte entstellt werden, es kann
zahlreiche Fälschungen geben, und die Lebenskraft der Gemeinschaft
kann ihre Elastizität und progressive Spannkraft verlieren. Es wäre
müßig, wollte man behaupten, daß es solche Mängel und unerwünschten
Resultate in Indien nicht gegeben habe. Ich akzeptiere das
asketische Ideal nicht als letzte Lösung des menschlichen Daseins
problems; aber selbst seine Übertreibungen haben einen edleren Geist
hinter sich als die vitalistischen Übertreibungen, die der
entgegengesetzte Mangel der westlichen Kultur sind.
Schließlich und endlich sind
Asketentum und Illusionismus Probleme von untergeordneter Bedeutung.
Hervorzuheben ist, daß indische Spiritualität zu ihren größten
Zeiten und in ihrer innersten Bedeutung nicht ein erschöpfter
Quietismus oder in konventionelles Klosterleben war, sondern die
hohe Anstrengung des menschlichen Geistes, über Begehren und vitale
Befriedigung hinauszugehen, um zu einem Gipfel spiritueller Ruhe,
Größe, Kraft, Erleuchtung, göttlicher Verwirklichung, des festen
Friedens und der Wonne zu gelangen. Im Vergleich zwischen der Kultur
Indiens und dem vehementen weltlichen Aktivismus des modernen
Bewusstseins stellt sich die Frage, ob eine solche Anstrengung für
die höchste Vervollkommnung des Menschen wesentlich ist oder nicht.
Und wenn dies der Fall ist, dann stellt sich die weitere Frage, ob
es sich nur um eine außergewöhnliche Kraft handeln soll, die sich
auf einige seltene Einzelne beschränkt, oder um die hauptsächliche
Motivkraft einer großen und menschlichen Zivilisation.
Eine rechte Beurteilung des
Wertes der indischen Philosophie für das Leben ist eng verknüpft mit
der rechten Einschätzung des Wertes der indischen Religion für das
Leben; Religion und Philosophie sind zu innig verbunden in dieser
Kultur, um voneinander getrennt zu werden. Indische Philosophie ist
keine rein rationale Gymnastik spekulativer Logik in den Wolken,
kein ultrasubtiler Prozeß des Gedankenerwebens und Wortwebens wie
der größte Teil der Philosophie in Europa. Sie ist die gegliederte
intellektuelle Theorie von der intuitiven ordnenden Wahrnehmung all
dessen, was die Seele, das Denken, die dynamische Wahrheit, den Kern
von Gefühl und Kraft der indischen Religion ausmacht. Indische
Religion ist indische spirituelle Philosophie, in die Tat und die
Erfahrung umgesetzt. Alles was im religiösen Denken und in der
religiösen Praxis jenes weiten, reichen, tausendfältigen, unendlich
geschmeidigen und doch sehr fest strukturierten Systems, das wir
Hinduismus nennen, der Intention nach nicht unter diese Beschreibung
fällt – ganz gleich, welches seine praktische Form auch sei -, ist
entweder gesellschaftlicher Rahmen oder Projektion ritueller
Hilfsmittel und Überbleibsel alter Stützen und Zusätze. Oder aber es
ist Auswuchs und Vermehrung der Korruption, eine Herabstufung seiner
Wahrheit und Bedeutung im Volksgeist, Teil jener verfälschten
Mixturen, die alles religiöse Denken und alle religiöse Praxis
einholen. In manchen Fällen ist es tote Gewohnheit, die zu Zeiten
der Versteinerung angenommen wurde, oder schlecht assimilierte
Fremdmaterie, die dieser Riesenkörper aufnahm. Das innere Prinzip
des Hinduismus, des tolerantesten und Rezeptivität aller religiösen
Systeme, ist nicht streng exklusiv wie der religiöse Geist von
Christentum oder Islam. Soweit er es ohne Verlust seiner mächtigen
individuellen Eigenart und seines starken persönlichen
Daseinsgesetzes sein konnte, war er synthetisch, anreichernd,
allumfassend. Er hat stets von jeder Seite her aufgenommen und sich
darauf verlassen, daß seine Assimilationskraft, die in seinem
spirituellen Herzen und in der weißen Glut seines Flammenzentrums
brennt, selbst das ungünstigste Material in Formen für seinen Geist
umwandelt.
Aber bevor wir nun prüfen, was denn unseren feindseligen westlichen
Kritiker an indischer religiöser Philosophie so sehr irritiert oder
verärgert, tun wir gut daran, zu betrachten, was er über andere
Aspekte dieses alten, zeitlosen und noch sehr lebendigen,
wachsenden, all assimilierenden Hinduismus zu sagen hat. Denn er hat
eine Menge zu sagen, und dabei geht er schonungslos und maßlos vor.
Wir finden hier nicht den zügellosen Rausch der Denunziation und das
Ausspeien falschen Zeugnisses, des Hasses, der Unbarmherzigkeit und
all dessen, was herabwürdigend, unspirituell und unsauber ist, wie
es charakteristisch ist für eine gewisse Art christlicher Literatur
zu diesem Thema. Das unübertreffliche Beispiel dieser verderblichen
Mischung hat Sir John Woodroffe aus den Seiten Harold Begbies
zitiert; es ist männlich vielleicht, wenn Gewalt männlich ist, aber
sicherlich nicht gesund. Dennoch ist es ein Komplex schonungsloser
Verdammung, übertrieben dort, wo es überhaupt eine Grundlage hat,
und unbeschwert unlogisch in der heiteren Freude bewusster
Fehldarstellung. Dennoch kann man aus dieser groben Masse die ins
Auge springenden typischen Antipathien herauslösen, die sie dem
unkritischen Gemüt und selbst vielen kritischen Gemütern empfehlen,
und allein diese Antipathien lohnt es zu entdecken.
Die völlige Irrationalität des Hinduismus ist der Hauptgegenstand
des Angriffs. Archer konzediert zwar beiläufig ein philosophische –
und, könnte man deshalb annehmen, rationales – Element in der
Religion Indiens, aber er diskreditiert die Leitgedanken dieser
religiösen Philosophie, so wie er sie versteht oder zu verstehen
meint, und weist sie als falsch und schädlich zurück. Er erklärt den
vorherrschenden irrationalen Charakter der Hindu-Religion mit der
Behauptung, das indische Volk habe stets mehr zur Erscheinungsform
geneigt als zur Substanz und mehr zum Buchstaben als zum Geist. Man
sollte annehmen, daß eine solche Neigung ein recht allgemeiner Zug
des menschlichen Gemütes ist, nicht in der Religion, sondern auch in
Gesellschaft, Politik, Kunst, Literatur, selbst in der
Naturwissenschaft. In jeder vorstellbaren menschlichen Tätigkeit
zwischen China und Peru war ein Kult der Erscheinungsform ein
Vernachlässigen des Geistes, eine Hinwendung zur Äußerlichkeit, zum
mechanischen Dogma die allgemeine Tendenz des menschlichen
Bewusstseins. Sie überspringt Europa keineswegs. Europa, wo Menschen
um Dogmen, Wörter, Riten und Formen der Kirchenadministration willen
in jeder von menschlicher Torheit und Grausamkeit auszumalenden
Weise gekämpft, getötet, verbrannt, gefoltert, eingekerkert,
verfolgt haben, Europa, wo diese Dinge an die Stelle von
Spiritualität und Religion traten, hat kaum eine Vergangenheit
aufzuweisen, die es berechtigen würde, gegenüber dem Osten diesen
Vorwurf zu erheben. Aber, so wird uns mitgeteilt, diese Neigung habe
die indische Religion mehr in Mitleidenschaft gezogen als jedes
andere Bekenntnis. Der höhere Hinduismus sei kaum anderswo zu finden
als in gewissen kleinen reformierenden Sekten, und der gegenwärtige
Hinduismus, die volkstümliche Religion, sei der Kult einer
monströsen Folklore, die die Vorstellungskraft bedrückt und lähmt
(obgleich man hier wiederum meinen sollte, daß – wenn überhaupt –
das indische Gemüt eher des Exzesses als der Lähmung schöpferischer
Vorstellung beschuldigt werden könnte). Animismus und Magie seien
die vorherrschenden Eigentümlichkeiten. Das indische Volk habe eine
Anlage zur Verdunkelung der Vernunft und zur Formalisierung,
Materialisierung und Herabwürdigung der Religion offenbart. Wenn
Indien große Denker besaß, so habe es deren Gedanken keine rationale
und erhebende Religion entnommen. Die religiöse Anbetung des
spanischen oder des russischen Bauern sei vergleichsweise rational
und aufgeklärt. Irrationalismus, Antirationalismus, - dies ist in
der schwerfälligen und überzogenen Anklage die ständige Parole; es
ist der Grundton von Archers Melodie.
Das Ereignis, das das Mental des Kritikers erstaunt und abgestoßen
hat, ist das beharrliche Überleben des alten religiösen Geistes und
großer antiker Religionsarten in Indien, die nicht von der Flut des
Modernismus und seinem verheerenden utilitaristischen Freidenken
verschüttet wurden. Indien, so sagt er uns, halte noch immer an dem
fest, was nicht nur die westliche Welt, sondern auch China und Japan
seit langem hinter sich gelassen hätten. Die Religion sei ein
Aberglaube voll frommer Verrichtungen, die den freien, aufgeklärten
Verstand des modernen Menschen abstoßen. Ihre täglichen Praktiken
entrückten sie weit dem Bereich der Zivilisation. Vielleicht wäre
sie als menschlich und erträglich akzeptiert worden, wenn sie ihre
Praxis dezent auf den sonntäglichen Kirchgang sowie kirchliche
Trauung, Bestattung und Tischgebet beschränkt hätte! Tatsächlich sei
sie nun der große Anachronismus der modernen Welt. Seit dreißig
Jahrhunderten sei sie nicht gereinigt worden. Sie stelle Heidentum
dar, ein völlig ungefiltertes Heidentum. Ihre Tendenz zur Befleckung
eher denn zur Reinigung erkläre ihren einsamen Rang am unteren Ende
der Wertskala der Weltreligionen. Ein einfallsreiches Mittel zur
Abhilfe wird vorgeschlagen. Das Christentum beseitigte das Heidentum
in Europa. Da jeder unmittelbare oder sehr schnelle Triumph
skeptischen Freidenkens ein zu abrupter Übergang wäre, um ganz und
gar passend zu sein, wird uns unaufgeklärten, befleckten, unreinen
Hindus geraten, es eine Zeitlang mit dem Christentum zu halten,-
welch armes irrational Ding das auch sein mag, und wenn es auch im
hellen Licht der positivistischen Vernunft entstellt ausschaut –,
weil das Christentum, und insbesondere das protestantische
Christentum,wenigstens ein guter vorbereitender Schritt in Richtung
auf die edle Freiheit und die makellose Reinheit von Atheismus und
Agnostizismus sei. Aber wenn man selbst auf dieses Geringfügige
nicht hoffen könne, trotz zahlreicher Hunger-Bekehrungen, so müsse
der Hinduismus doch in jedem Fall auf diese oder jene Weise
gefiltert werden. Und bis der Reinigungsprozess durchgeführt ist,
müsse Indien die Gleichstellung mit den zivilisierten Nationen
versagt bleiben.
Übrigens sehen wir hier, daß
für die Anklage des Irrationalismus und die Nebenklage des
Heidentums ein dritter und noch schädlicherer Klagepunkt als
zusätzliche Stütze gegen uns und unsere religiöse Kultur vorgebracht
wird: das angebliche Fehlen jeden moralischen Wertes und aller
ethischen Substanz. Es gibt nun eine wachsende Einsicht, selbst in
Europa, daß Vernunft nicht das letzte Wort des menschlichen Mentals
ist, auch nicht eine und einzige souveräne Weg zur Wahrheit und
sicher nicht der alleinige Schiedsrichter über religiöse und
spirituelle Wahrheit. Auch die Anklage des Heidentums löst die Frage
nicht, da viele kultivierte Menschen sehr wohl zu sehen vermögen,
daß es in den alten Religionen zahlreiche große, wahre und schöne
Dinge gab, die von christlicher Unwissenheit unter jenem
unangebrachten Sammelnamen zusammengeworfen wurden. Auch war es ganz
und gar kein Gewinn für die Welt, als sie diese hohen alten Formen
und Motive verlor. Aber ganz gleich, welches die tatsächliche Praxis
der Menschen ist – und in dieser Hinsicht ist der normale Mensch
eine einzigartige Mischung des aufrichtigen, aber ganz unwirksamen,
des rechtschaffenen respektablen, möchte-gern sittlichen Menschen
mit dem sich selbst betrügenden oder halb-heuchlerischen Pharisäer
–, man kann stets kraftvoll an ein moralistisches Vorurteil
appellieren. Alle Religionen hissen die Flagge der Moral, und alle,
ob sie religiös oder weltlich eingestellt sind, alle außer dem, der
das moralische Gesetz nicht für bindend hält, dem Rebellen und
Zyniker, erklären, daß sie jener Norm in ihrem Leben folgen oder sie
zumindest akzeptieren. Diese Anklage ist daher in etwa die am
meisten voreingenommene Beschuldigung, die gegen irgendeine Religion
erhoben werden kann. Der selbsternannte Strafrichter, dessen
Schmähschrift wir prüfen, trägt sie skrupellos und ohne Maß vor. Er
hat entdeckt, daß der Hinduismus keine erhebende oder eben moralisch
hilfreiche Religion sei. Wenn der Hinduismus auch viel von
Rechtschaffenheit gesprochen habe, so habe er nie den Anspruch
erhoben, daß Morallehre eine seiner Aufgaben sei. Eine Religion, die
viel von Rechtschaffenheit reden kann, ohne die Aufgabe einer
Morallehre zu erfüllen, wäre dasselbe wie ein Quadrat, das nicht
beanspruchen kann, ein Viereck zu sein; aber das sei außer Acht
gelassen. Wenn der Hindu vergleichsweise frei von den gröberen
westlichen Abirrungen ist – bislang noch, und nur solange, bis er in
den Bereich der Zivilisation eintritt indem er das Christentum
annimmt oder sonst wie so nicht deshalb, weil es eine sittliche
Veranlagung in seinem Charakter gebe, vielmehr deshalb, weil er zu
diesen Abirrungen keine Gelegenheit habe. Sein Gesellschaftssystem,
das sich auf der barbarischen Vorstellung vom Dharma aufbaut, des
göttlichen und des menschlichen, des universalen und des
individuellen, des ethischen und gesellschaftlichen Gesetzes und in
allen Punkten darauf basiere, habe es törichterweise unterlassen,
ihm die Gelegenheiten zu geben, dieses Gesetz zu verlassen, was die
westliche Zivilisation so großzügig biete. Und doch beinhalte die
ganze Art des Hinduismus, die zugleich die Art des Volkes ist, so
wird uns ruhig mitgeteilt, einen melancholischen Hang zu allem, was
schrecklich und verderblich sei. An dieser Stelle höchst maßloser
Verurteilung können wir Archers ungeheuerliches und verderbliches
Schaustück der Verunglimpfung verlassen und uns daran machen, die
eigenwilligen Quellen seiner Abneigung und seines Ärgers zu
analysieren.
Insbesondere zwei Dinge
charakterisieren das gewöhnliche europäische Mental – wir müssen
einige große Seelen und einige große Denker, Augenblicke oder
Epochen außergewöhnlicher Religiosität außer Acht lassen und die
dominierende Tendenz betrachten. Diese zwei bedeutsamen Merkmale
sind der Kult der forschenden, abgrenzenden, wirkungsvollen,
praktischen Vernunft und der Kult des Lebens. Die großen
Blütenzeiten europäischer Zivilisation, die griechische Kultur, die
römische Welt vor Konstantin, die Renaissance, das moderne Zeitalter
mit seinen beiden gigantischen Idolen Industrialismus und
Naturwissenschaft, erfuhr der Westen jeweils mit dem starken
Auftrieb dieser doppelten Kraft. Immer wenn die Flut dieser Kräfte
verebbte, trat das europäische Mental in große Verwirrung,
Dunkelheit und Schwäche ein. Das Christentum vermochte nicht Europa
zu spiritualisieren – was immer es auch getan hat, um Europa in
gewissen ethischen Richtungen zu humanisieren –, weil es diesen
beiden Hauptinstinkten zuwiderlief. Es leugnete die Herrschaft der
Vernunft und belegte eine zufriedene oder rastlose Lebensfülle mit
seinem Bannspruch. In Asien gab es weder ein Dominieren der Vernunft
und des Lebenskultes noch eine Unvereinbarkeit dieser beiden Kräfte
mit dem religiösen Geist. Die großen Zeitalter Asiens, die mächtigen
Gipfel seiner Zivilisation und Kultur – in Indien die hohen
vedischen Anfänge, die große spirituelle Bewegung der Upanischaden,
die weite Bewegung des Buddhismus, Vedanta, Sankhya, der puranischen
und tantrischen Religionen, die Blüte von Vishnuismus und Shivaismus
in den Königreichen des Südens – kamen im Gefolge einer Flutwelle
spirituellen Lichtes und eines massiven und intensiven Aufstiegs des
religiösen oder religiösphilosophischen Geistes zu den eigenen
Höhen, seinen edelsten Realitäten, seinen größten Schätzen an Schau
und Erfahrung. Zu solchen Zeiten geschah es, daß Intellekt, Denken,
Dichtung, die Künste, das materielle Leben ihre große Blüte
erlebten. Das Verebben der Spiritualität führte hingegen immer die
Schwächung dieser anderen Kräfte herbei, Perioden der Versteinerung,
zumindest ein Abnehmen der Lebenskraft, Zeiträume des Niedergangs,
ja Anfänge des Verfalls. Dies ist ein Schlüssel, an dem wir
festhalten müssen, wenn wir die Hauptabweichungen zwischen Ost und
West verstehen wollen.
In der Richtung zum Geist
hin – wenn schon nicht die volle Strecke – muß der Mensch
aufsteigen, oder er verfehlt seine Höherentwicklung. Aber es gibt
verschiedene Wege, um mit den verborgenen Kräften des Geistes in
Kontakt zu kommen. Europa, so möchte es scheinen, muß die Stadien
von Leben und Vernunft durchlaufen und durch sie die spirituelle
Wahrheit als Krone und Offenbarung entdecken. Es kann nicht sogleich
das Himmel reich mit Gewalt einnehmen, wie nach Christi Ausspruch
Menschen es täten. Dieser Versuch verwirrt und verdunkelt Europas
Vernunft, wird bekämpft von seinen Lebensinstinkten und führt zur
Revolte, zur Negation, zur Rückkehr zu seinem eigenen Wesensgesetz.
Doch Asien, zumindest Indien, lebt in natürlicher Weise durch einen
spirituellen Herabfluß von oben: Dies allein bringt die spirituelle
Erweckung seiner höheren mentalen und Lebenskräfte mit sich. Die
beiden Kontinente sind die beiden Hälften des integralen Erdkreises
der Menschheit, und bis sie sich treffen und miteinander
verschmelzen, muß jeder von ihnen jedmöglichen Fortschritt oder
Gipfel, den der Geist in der Menschheit sucht, durch sein
Daseinsgesetz, sein je eigenes ihm zugehöriges Dharma anstreben.
Eine einseitige Welt stünde nur ärmer da mit ihrer Einförmigkeit und
der Eintönigkeit einer einzigen Kultur. Abweichende Pfade des
Fortschritts sind notwendig bis wir unseren Kopf in jene
Unendlichkeit des Geistes recken können, in der genügend Licht
existiert, um alles zusammenzubringen und auszusöhnen, höchste Wege
des Denkens, Fühlens und Leben. Dies ist eine Wahrheit, die der
gewaltsame indische Angreifer eines materialistischen Europa und der
verächtliche Feind oder kaltblütige Verunglimpfen asiatischer oder
indischer Kultur gemeinsam ignorieren. Es geht hier nicht eigentlich
um die Frage von Barbarei oder Zivilisation, denn alle
Menschenmassen sind Barbaren, die Anstrengungen unternehmen, um sich
zu zivilisieren. Es besteht nur einer jener dynamischen
Unterschiede, die für die Vollständigkeit des wachsenden Kreises
menschlicher Kultur notwendig sind.
Die Divergenz führt indessen
unglücklicherweise einen ständigen Konflikt der Anschauungen in der
Religion und auf den meisten anderen Gebieten herbei, und der
Gegensatz bringt mehr oder minder Unfähigkeit zum wechselseitigen
Verstehen und sogar direkte Feindschaft und Abneigung mit sich. Die
Betonung des westlichen Mentals liegt auf Leben, vor allem dem
äußeren Leben, auf den Dingen, die begriffen werden, sichtbar,
fühlbar sind. Das innere Leben wird nur als intelligente Reflexion
der Außenwelt angesehen, wobei die Vernunft ein resoluter Gestalter
der Dinge ist, ein kluger Kritiker, Baumeister, Verfeinerer der
äußeren Materialien, die die Natur bietet. Die gegenwärtige Nutzung
des Lebens, ganz in diesem Leben und für dieses Leben da zu sein,
ist das Hauptanliegen Europas. Das gegenwärtige Leben des Einzelnen,
die fortdauernde physischen Existenz sowie das sich entwickelnde
Mental und Wissen der Menschheit sind das ein Interesse, das Europa
ganz in Anspruch nimmt. Der Westen hat eine Tendenz, selbst von der
Religion zu fordern, daß sie ihr Ziel oder ihre Wirkung diesem
Nutzen für die unmittelbare, sichtbare Welt unterordnen soll. Der
Grieche und der Römer betrachteten religiösen Kult als Bestätigung
für das Leben der polis oder als Kraftvollen Beitrag zur rechten
Stabilität und Festigkeit des Staates. Das Mittelalter, zu dessen
Zeit der christliche Gedanke seine Hochblüte hatte, war ein
Interregnum; es war eine Epoche, in der das westliche Mental
versuchte, in Emotion und Intelligenz ein orientalisches Ideal zu
assimilieren. Aber es gelang ihm nie, es beständig zu leben, und
mußte es schließlich aufgeben oder es nur als Lippenbekenntnis
behalten. Der gegenwärtige Augenblick ist in derselben Weise für
Asien ein Interregnum, dominiert von dem Versuch, trotz einer
rebellischen Seele und Gemütsverfassung die westliche Weltanschauung
und deren erdgebundenes Ideal in Intellekt und Leben zu
assimilieren. Und wir können mit Gewissheit voraussagen, daß es auch
Asien nicht gelingen wird, dieses fremde Gesetz beständig oder für
lange Zeit zu leben. Aber in Europa mußte selbst der christliche
Gedanke, in seiner puren Reinheit gekennzeichnet durch die Betonung
seiner introspektiven Tendenz und eine kompromisslose Ausrichtung
aufs Jenseitige, mit den Forderungen des westlichen Naturells einen
Kompromiß schließen und verlor dabei das eigene innere Königreich.
Das wahre Naturell des Westens triumphierte, in wachsendem Grad
rationalisierte und säkularisierte es den religiösen Geist und
löschte ihn fast aus. Die Religion wurde mehr und mehr zu einem
schwachen, immer dünneren Schatten, verbannt in eine kleine Ecke des
Lebens und eine noch kleinere Ecke der Natur, wobei sie ihr
Todesurteil oder ihre Verbannung ins Exil erwartete, während
außerhalb der Tore der bezwungenen Kirche die triumphierenden
weltlichen Gepränge des äußeren Lebens und die praktische Vernunft
und materialistische Naturwissenschaft siegreich marschierten.
Die Tendenz zum Säkularismus
ist eine notwendige Konsequenz des von seiner innersten Innenschau
losgelösten Lebenskultes und Verstandes. Das alte Europa trennte
nicht Religion und Leben; aber das lag daran, daß keine
Notwendigkeit für eine Trennung bestand. Seine Religion war, sobald
sie sich vom orientalischen Element der Mysterien befreite, eine
weltliche Institution, die nicht über eine gewisse übernatürliche
Bestätigung und geeignete Hilfe für die Regelung dieses Lebens
hinausschaute. Und selbst dann bestand die Tendenz, die Überbleibsel
des ursprünglichen religiösen Geistes wegzuphilosophieren und
wegzuargumentieren, den kleinen Schatten, der noch von den brütenden
Schwingen eines überrationalen Mysteriums blieb, zu verbannen und in
das klare Sonnenlicht der logischen und praktischen Vernunft zu
gelangen. Aber das moderne Europa ging noch weiter bis zum Ende
selbst dieses Pfades. Um die Zwangsvorstellung des christlichen
Konzeptes wirksamer abzuschütteln, das – wie alles orientalische
Denken – den Anspruch erhebt, die Religion dem Leben kommensurabel
zu machen und das ganze Wesen und seine Handlungen gegen jedweden
Widerstand, der ihm von der ungeläuterten vitalen Natur des
animalischen Menschen entgegengebracht wird, zu spiritualisieren,
trennte das moderne Europa Religion vom Leben, von der Philosophie,
von Kunst und Wissenschaft, von Politik, vom größeren Teil
gesellschaftlichen Handeln und Lebens. Und es säkularisierte und
rationalisierte auch die ethische Forderung, damit es ganz auf
eigenen Füßen stehen könne und nicht an irgendwelche Hilfe vonseiten
religiöser Sanktion oder mystischer Eindringlichkeit angewiesen sei.
Am Ende dieser Wende finden wir eine antinomische Tendenz, die
ständig in der Lebensgeschichte Europas wiederkehrt und jetzt wieder
offenkundig ist. Diese Kraft sucht auch Ethik zu annullieren, nicht
indem sie sich über sie hinaushebt in die absolute Reinheit des
Geistes, wie mystische Erfahrung es zu tun beansprucht, sondern
indem sie aus ihren Schranken unter herausbricht in eine
triumphierende Freiheit des vitalen Spiels. In dieser Entwicklung
wurde Religion beiseite gelassen als ein ausgelaugtes System von
Glauben und Zeremonie, dem man anhängen mag oder nicht, was wenig
Unterschied bedeutet für den Vormarsch des menschlichen Mentals und
Lebens. Ihre beherrschende und farbgebende Kraft war auf ein kleines
Maß reduziert worden; eine oberflächliche Pigmentierung von Dogma,
Gefühl und Emotion war alles, was diesen durchgreifenden Prozeß
überlebte.
Selbst den ärmlichen kleinen
Winkel, der der Religion noch zugestanden wurde, suchte der
Intellektualismus soweit wie möglich mit dem Licht der Vernunft zu
überfluten. Die Tendenz war, nicht nur die unterrationalen, sondern
in gleicher Weise auch die überrationalen Schlupfwinkel des
religiösen Geistes zu vermindern. Der alte heidnische
polytheistische Symbolismus umkleidete mit seinen schönen
Symbolfiguren die alte Vorstellung von einer göttlichen Gegenwart,
supraphysischem Leben und supraphysischer Kraft in aller Natur und
in jedem Teilchen des Lebens uns der Materie, in allem Tierleben und
aller mentalen Handlung des Menschen, aber diese Vorstellung, die
für die säkulare Vernunft nur ein intellektualisierter Animismus
ist, war bereits gnadenlos verbannt worden. Die Gottheit hatte die
Erde verlassen und lebte weit oben, fern in anderen Welten, in einem
Himmel reich der Heiligen und unsterblichen Geistwesen. Warum sollte
es andere Welten geben? Für mich, so rief der progressive Intellekt,
gibt es nur diese materielle Welt, von der unsere Vernunft und Sinne
zeugen. Eine vage kahle Abstraktion spiritueller Existenz ohne
lebendiges Anwohnen, ohne jedes Mittel dynamischer Nähe verblieb, um
die frostigen Überbleibsel des alten spirituellen Gefühls oder der
alten phantastischen Illusion zu befriedigen. Es blieb ein leerer
und lauer Theismus, ein rationalisiertes Christentum ohne den Namen
Christi, ohne seine Gegenwart. Und warum sollte selbst dies vom
kritischen Licht der Intelligenz zugestanden werden? Dem rationalen
Verstand genügt ganz und gar eine Vernunft oder Kraft, die mangels
eines besseren Namens Gott genannt und im materiellen Universum vom
moralischen und physischen Gesetz repräsentiert wird. So gelangen
wir zum Deismus, zu einer leeren intellektuellen Formel. Warum
sollte es überhaupt einen Gott geben? Vernunft und Sinne zeugen an
sich nicht von Gott. Im besten Falle können sie aus Ihm lediglich
eine plausible Hypothese machen. Aber es besteht keine Notwendigkeit
für eine substanzlose Hypothese, da Natur genügt und die einzige
Sache ist, von der wir etwas wissen. So gelangen wir durch einen
unvermeidlichen Prozess zum atheistischen oder agnostischen Kult des
Säkularismus, dem Gipfel der Leugnung, dem Zenith der empirischen
Intelligenz. Und dort können Vernunft und Leben hinfort Wurzeln
schlagen und mit Genugtuung über eine eroberte Welt regieren,–wenn
nur jenes unpassende, verschleierte, unklare, unendliche Etwas, das
dahinter ist, sie in Zukunft nicht behelligt!
Ein Naturell, eine Weltanschauung dieser Art muß notwendigerweise
gegenüber einer Bemühung wie dem ernsthaften Streben nach dem
Überrationalen und dem Unendlichen abgeneigt sein. Sie mag ein
beschränktes Spiel dieser subtilen Halluzinationen als unschuldigen
Zeitvertreib des spekulativen Mentals oder der künstlerischen
Vorstellung zulassen, vorausgesetzt, es ist nicht zu ernst und
bleibt ohne Einfluß aufs Leben. Askese und Jenseitigkeit sind diesem
Naturell zuwider und fatal für seine Weltanschauung. Das Leben ist
etwas, das man entsprechend unserer eigenen Kraft rational oder
dynamisch besitzen und genießen muß: dieses irdische Leben, die eine
Sache, die wir kennen, unser einziges Feld. Im höchsten Fall sind
gemäßigte intellektuelle und ethische Askese zulässig, das einfache,
schlichte Leben, hohes Denken; aber ein ekstatisches, spirituelles
Asketentum ist ein Vergehen an der Vernunft, fast ein Verbrechen.
Dem Pessimismus der vitalistischen Art mag man seine Stimmung oder
seine Stunde lassen; denn er räumt ein, daß das Leben ein Übel sei,
das man leben müsse und nicht an seinen Wurzeln kappt. Aber der
offenbar rechte Standpunkt ist es, das Leben so zu nehmen, wie es
ist, und das beste daraus zu machen, entweder im praktischen Sinn
zum besten Ordnen seines gemischten Guten und Bösen oder im idealen
Sinn mit einer Hoffnung auf eine relative Vollkommenheit. Wenn
Spiritualität irgendeine Bedeutung haben soll, so kann sie nur das
Ziel oder die hohe Anstrengung einer gehobenen Intelligenz sein,
eines rationalen Willens, einer begrenzten Schönheit und eines
moralischen Guten, das versuchen wird, das Beste aus diesem
gegenwärtigen Leben zu machen, und nicht vergeblich nach dem
Jenseits, nach einer unmenschlichen, unerreichbaren, unendlichen
oder absoluten Genugtuung Ausschau halt. Wenn Religion überleben
soll, so möge ihre Funktion darin bestehen, dieser Art spirituellen
Zielen zu dienen, das Verhalten zu regeln, unserem Leben Schönheit
und Reinheit zu verleihen. Doch möge sie dabei dieser gesunden und
männlichen Spiritualität dienlich sein und innerhalb der Grenzen der
praktischen Vernunft und einer irdischen Klugheit bleiben. Diese
Beschreibung isoliert ohne Frage die Haupttendenzen und ignoriert
Abweichungen nach der einen oder anderen Seite; während es in aller
menschlichen Natur Abweichungen geben muß, oft von extremer Art.
Aber ich denken, es ist keine unfaire oder übertriebene Beschreibung
der ständigen Basis und der charakteristischen Ausrichtung des
westlichen Naturells, seiner Weltanschauung und der normalen
Position seiner Intelligenz. Dies ist ihre selbsterfüllte statische
Position, bevor sie zu jener Abweichung oder Selbsttranszendenz
übergeht, zu der Mensch unweigerlich bewegt wird, wenn er den Gipfel
seines normalen Wesens erreicht. Denn er birgt in sich eine
natürliche Kraft, die entweder wachsen oder aber stagnieren,
aufhören, zerfallen muß. Bis er sich ganz gefunden hat, gibt es für
ihn kein statisches Verweilen und kein permanentes Heim für seinen
Geist. Wenn dieses westliche Mental nun der noch überlebenden Kraft
indischer Religion, indischen Denkens, indischer Kultur konfrontiert
wird, entdeckt es, daß all seine Normen negiert, überschritten oder
geschmälert werden: Alles, was es ehrt, wird auf den zweiten Platz
verwiesen; alles, was es zurückgewiesen hat, wird noch in Ehren
gehalten. Hier ist eine Philosophie, die sich auf die unmittelbare
Realität des Unendlichen gründet, auf den dringenden Anspruch des
Absoluten. Und dies nicht als etwas, worüber zu spekulieren ist,
sondern als wirkliche Gegenwart und ständige Kraft, die die Seele
des Menschen fordert und ruft. Hier ist eine Mentalität, die das
Göttliche in der Natur, in Mensch und Tier und in den unbelebten
Dingen sieht, Gott am Anfang, Gott in der Mitte, Gott am Ende, Gott
überall. Und all dies ist nicht ein zulässiges dichterisches Spiel
der Vorstellung, die vom Leben nicht zu ernst zu nehmen ist, sondern
wird unterbreitet als etwas, das es zu leben, zu verwirklichen gilt,
selbst hinter äußere Handlung zu stellen, in Substanz von Gedanke,
Gefühl und Handlung zu verwandeln ist. Und ganze Disziplinen sind
für diesen Zweck systematisiert worden, Disziplinen, die Menschen
immer noch über. Und ganze Leben werden diesem Streben nach der
höchsten Person, der universalen Gottheit, dem Einen, dem Absoluten,
Unendlichen gewidmet. Und um dieses immaterielle Ziel zu verfolgen,
sind Menschen immer noch dazu bereit, das äußere Leben und die
Gesellschaft, Heim und Familie, ihre liebsten Interessen und alles,
was für einen rationalen Verstand einen substantiellen und
nachweisbaren Wert hat, aufzugeben. Hier ist ein Land, das noch
stark gefärbt ist von der Ackertönung des Gewandes des Sannyasin, wo
das Jenseits noch als Wahrheit gepredigt wird und die Menschen einen
Lebendigen Glauben an andere Welten, an Reinkarnation und einen
ganzen Schwarm antiker Vorstellungen haben, deren Wahrheit durch die
Instrumente der Naturwissenschaft gar nicht nachgewiesen werden
kann. Hier hält man die Erfahrungen des Yoga für ebenso wahr oder
mehr wahr als die Leboratoriumsexperimente. Ist dies nicht ein
Denken von Dingen, die offenbar undenkbar sind, da der rationale
westliche Verstand aufgehört hat, über sie nachzudenken? Ist es
nicht ein Versuch, Dinge zu erkennen, die offenbar unerkennbar sind,
da das moderne Mental alle Versuche aufgegeben hat, sie zu erkennen?
Bei diesen irrationalen Halb-Wilden wird sogar eine Anstrengung
unternommen, diese unwirkliche Sache zum höchsten Lebensflug zu
machen, zu seinem ureigentlichen Ziel, zu einer beherrschenden
Kraft, einer Gestaltungskraft in Kunst, Kultur und Umgangsformen.
Aber Kunst, Kultur und Umgangsformen sind Dinge, die, so sagt uns
dieser rationale Verstand, die indische Spiritualität und Religion
logischerweise überhaupt nicht berühren sollten; denn sie gehören
dem Bereich des Endlichen an und können nur auf der intellektuellen
Vernunft, der praktischen Umwelt und den Wahrheiten und Hinweisen
der physischen Natur gegründet werden. Hier haben wir die scheinbare
Kluft zwischen den beiden Mentalitäten in ihrer ureigenen Form und
sie erscheint unüberbrückbar. Oder vielmehr kann der indische
Verstand die positivistische Tendenz westlicher Intelligenz gut
genug verstehen, selbst wenn er sie nicht teilt. Aber er selbst ist
für letztere eine Sache, die, wenn nicht zu verdammen, so doch
anomal und unverständlich ist.
Die Auswirkungen des
indischen religiös-philosophischen Standpunktes auf das Leben sind
dem westlichen Kritiker noch unerträglicher. Wenn seiner Vernunft
bereits dieser übernationale, für ihn anti rationale Drang missfiel,
so werden nun die stärksten Gefühle seines Naturells durch die
Konfrontation mit ihren unmittelbaren Gegenstücken und Gegensätzen
heftig erschüttert. Das Leben, jenes Gut, dem er einen vollständigen
und absoluten Wert beimißt, wird hier in Frage gestellt. Es wird
geschmälert und entmutigt durch die extremsten Konsequenzen eines
Aspektes der indischen Anschauung oder Innenschau, es wird nirgendwo
so akzeptiert, wie es um seiner selbst willen ist. Asketentum ist
weit verbreitet, steht an der Spitze der Dinge, wirft seinen
Schatten auf die vitalen Gefühle und ruft den Menschen auf, über das
Leben des Körpers und selbst über das Leben des mentalen Willens und
der Intelligenz hinauszugehen. Das westliche Mental legt erheblichen
Nachdruck auf die Kraft der Persönlichkeit, auf den individuellen
Willen, auf den sichtbaren Menschen und die Wünsche und Forderungen
seiner Natur. Im Gegensatz dazu kommt es hier gerade auf hohe
Entwicklung zur Unpersönlichkeit an, auf die Weitung des
individuellen zum universalen Willen, auf ein Hinauswachsen über den
sichtbaren Menschen und das Durchbrechen seiner Grenzen. Das Blühen
des mentalen und vitalen Egos, bestenfalls dessen Förderlichkeit für
das größere Ego der Gemeinschaft, ist kulturelle Ideal des Westens.
Demgegenüber wird hier das Ego als Haupthindernis für die
Vervollkommnung der Seele angesehen; sein Platz soll auch keineswegs
vom konkreten Gemeinschaftsego eingenommen werden, sondern von etwas
Innerem, Abstraktem, Transzendentalem, etwas Supramentalem,
Supraphysischem, absolut Realem. Das westliche Naturell ist
kinetisch, pragmatisch, aktiv; für es richtet sich Denken immer auf
Handeln und besitzt wenig Wert außer um der Handlung willen oder
aber zu einer subtilen Befriedigung des mentalen Spiels und der
mentalen Energie. Der Typus, der hier bewundert werden soll, ist der
selbst beherrschte sattwische Mensch, für den ruhiges Denken,
spirituelles Wissen und das innere Leben Dinge von größter Bedeutung
sind, und Handlung ist nicht in erster Linie um ihrer selbst willen
wichtig, nicht um ihrer Erträge und Früchte willen, sondern wegen
ihrer Auswirkungen auf die Entwicklung der inneren Natur. Auch hier
haben wir einen verwirrenden Quietismus, der das Erlöschen oder
Nirvana allen Denkens und Handelns in ewigem Licht und Frieden
anstrebt. Es überrascht nicht, wenn ein Kritiker von unbefreiter
westlicher Mentalität diese Kontraste sehr unzufrieden, ja mit einer
Reaktion der Antipathie, einer fast wilden Abneigung betrachten
sollte.
Aber ganz gleich, wie fern
diese Dinge seinem Verstand auch liegen mögen, sie enthalten doch
etwas, das hoch und edel ist. Er kann sie als falsch, anti rational
und bedrückend diskreditieren, nicht aber als übel und unedel
denunzieren. Er vermag dies nur mit Hilfe solcher Fehldarstellungen,
wie wie sie in Abschnitten von Archers Kritik fanden, die eher von
Verantwortungslosigkeit gekennzeichnet sind. Diese Dinge mögen
Anzeichen eines antiken oder antiquierten Denkens sein, aber sie
sind gewiß nicht die Früchte einer barbarischen Kultur. Und wenn er
die Formen der Religion betrachtet, die sie erleuchten und beleben,
gewinnt er nicht den Eindruck, sich in der Nähe von reiner Barbarei,
einem wilden, unwissenden Durcheinander zu befinden. Denn hier gibt
es eine Fülle von dem, dessen er die Religion seiner eigenen Kultur
so lange und stetig entkleidet hat, um dann, ganz und gar zufrieden
damit, jene Leere Reformation Aufklärung oder rationale Wahrheit der
Dinge zu nennen. Er sieht einen gigantischen Polytheismu, eine
Überfülle dessen, was seiner Klugheit als reiner Aber glaube
erscheint, als grenzenlose Bereitschaft, Dinge zu glauben, die für
ihn bedeutungslos oder unglaubwürdig sind. Man schreibt dem Hindu
volkstümlich dreihundert Millionen und mehr Götter zu, ebenso viele
Bewohner für all die vielen Himmel, wie es Menschen allein auf
dieser irdischen Halbinsel Indien gibt, und er hat keinen Einwand
dagegen, dieser großen Menge, falls notwendig, noch weitere
hinzuzufügen. Hier haben wir Tempel, Götterbilder, ein Priestertum,
eine Masse unergründlicher Riten und Zeremonien, die tägliche
Wiederholung von Sanskrit Mantren und Gebeten, von denen einige eine
prähistorische Schöpfung sind, einen Glauben an alle Arten von
übernatürlichen Wesen und Kräften, Heilige, Gurus. Besonderen
Festtage, Gelübde Gaben, Opfer, ein ständiges Beziehen des Lebens
auf Kräfte und Einflüsse, die sich physisch nicht nachweisen lassen,
anstelle von rationaler wissenschaftlicher Abhängigkeit von den
materiellen Gesetzen, die allein das Leben sterblicher Geschöpfe
regieren. Für den westlichen Betrachter ist es ein unergründliches
Chaos, Animismus, eine abstoßende Folklore. Die Bedeutung, die das
indische Denken diesen Dingen gibt, ihr spiritueller Sinn, entgeht
ihm vollständig oder über-zeugt ihm nicht oder erscheint ihm als
leerer und sinnloser Symbolismus, subtil, nutzlos, nichtig. Und der
Kult und Glaube dieses Volkes ist seiner Art nach nicht nur
antiquiert und mittelalterlich, sondern er bekommt auch nicht seinen
rechten Platz. Anstatt Religion in eine unscheinbare und
wirkungslose Ecke zu verweisen, erhebt das indische Mental den
Anspruch, den unsinnigen Anspruch, dem der rationale Mensch für
immer entwachsen ist, mit ihr das ganze Leben zu füllen.
Es ist schwierig, die zu
pragmatische durchschnittliche europäische Intelligenz, die der
religiösen Mentalität entwachsen ist oder sich erst zu ihr
zurückkämpft nach einem noch nicht liquidierten Bankrott des
rationalistischen Materialismus, davon zu überzeugen, daß diese
indischen religiösen Formen eine tiefe Wahrheit oder Bedeutung
haben. Es wurde trefflich gesagt, daß sie Rhythmen des Geistes
seien; aber wem der Geist abgeht, dem nuß notwendigerweise auch die
Verknüpfung zwischen Geist und Rhythmus entgehen. Die Götter dieser
religiösen Anbetung sind, wie jeder Inder weiß, mächtige Namen,
göttliche Formen, dynamische Persönlichkeiten lebendige Aspekte des
einen Unendlichen. Jede Gottheit ist eine Form oder Ableitung oder
abhängige Kraft der höchsten Trinität, jede Göttin eine Form der
universalen Energie, Bewussten Kraft oder Shakti. Aber dem logischen
europäischen Verstand sind Monotheismus, Polytheismus, Pantheismus
unversöhnliche, miteinander streitende Dogmen; Einheit, Vielheit,
Allzeit sind nicht und können nicht verschiedene, wohl aber
gleichlaufende Aspekte des wiegen Unendlichen sein. Ein Glaube an
ein Göttliches Wesen, das über dem Kosmos steht, der gesamte Kosmos
ist und in vielen Formen von Gottheit lebt, ist ein Mischmasch, eine
Mixtur, eine Verwirrung der Gedanken und Vorstellungen; denn
Synthese, intuitive Schau, innere Erfahrung sind nicht der starke
Punkt dieses sehr äußerlichen, analytisches und logischen
Verstandes. Das Götterbild ist dem Hindu ein physisches Symbol und
eine Stütze des Übernatürlichen; es ist eine Basis für die Begegnung
zwischen dem verkörperten Mental und Sinn des Menschen und der
übernatürlichen Macht, Kraft oder Gegenwart, die er anbetet und mit
der er zu kommunizieren wünscht. Der durchschnittliche Europäer
hingegen glaubt wenig an körperlose Wesenheiten, und wenn sie
überhaupt existieren, so würde er sie als eigene Kategorie
absondern, als eine weitere abgetrennte Welt, eine separate
Existenz. Ein Zusammenhang zwischen dem Physischen und dem
Supraphysischen ist in seiner Schau eine bedeutungslose Feinheit,
die nur in phantasievoller Poesie und Romanze zulässig ist.
Die Riten, Zeremonien, das
System von Kult und Anbetung des Hinduismus können nur verstanden
werden, wenn wir an seinen fundamentalen Charakter denken. Er ist an
erster Stelle eine nicht dogmatische alles einbeziehende Religion
und hätte selbst den Islam und das Christentum einbezogen, wenn sie
den Vorgang zugelassen hätten. Alles, was er auf seinem Weg traf,
hat er in sich aufgenommen, zufrieden damit, wenn er dessen Formen
in einen gültigen Bezug zur Wahrheit der supraphysischen Welten und
zur Wahrheit des Unendlichen setzen konnte. Weiter hat er immer in
seinem Herzen gewußt, daß Religion, wenn sie eine Wirklichkeit für
die Masse der Menschen und nicht nur für einige wenige Heilige und
Denker sein soll, die Gesamtheit unseres Wesens ansprechen muß,
nicht nur die übernationalen und die rationalen Teile, sondern alle
anderen ebenfalls. Die Vorstellung, die Emotionen, der ästhetische
Sinne, selbst die Instinkte der halbbewußten Teile müssen religiös
beeinflusst werden. Die Religion muß den Menschen zur
überrationalen, spirituellen Wahrheit hinführen, und sie muß auf
ihrem Weg die erleuchtete Vernunft in Anspruch nehmen, aber sie darf
es nicht unterlassen, den Rest unserer vielschichtigen Natur zu Gott
hin zu rufen. Und sie muß auch jeden Menschen dort nehmen, wo er
steht, und ihn durch das spiritualisieren, was er fühlen kann, und
ihm nicht sogleich etwas aufzwingen, was er noch nicht als wahre und
lebendige Kraft erfassen kann. Dies ist der Sinn und das ziel all
jener Teile des Hinduismus, die im besonderen von der
positivistischen Intelligenz als irrational oder anti rational
gebrandmarkt werden. Aber das europäische Mental vermochte diese
einfache Notwendigkeit nicht zu verstehen oder hat sie verachtet. Es
will die Religion reinigen durch die Vernunft und nicht durch den
Geist, sie reformieren, durch die Vernunft und nicht durch den
Geist. Und wir haben gesehen, welches die Resultate dieser Art
Reinigung und Reformation in Europa waren. Das unweigerliche
Resultat jener unwissenden Manipulation war, daß zunächst die
Religion verarmte und dann langsam getötet wurde; der Patient erlag
der Behandlung, wohingegen er die Krankheit gut überlebt haben
könnte.
Die Anklage mangelnden
ethischen Inhalts ist absurd, sie ist das direkte Gegenteil der
Wahrheit; aber wir müssen ihre Erklärung in einer Art typischem
Mißverständnis suchen; denn sie ist nicht neu. Das Hindu-Denken und
die Hindu-Literatur könnte man stets einer tyrannisch dominierenden
ethischen Besessenheit beschuldigen; überall kehrt der ethische
Grundton wieder. Der Gedanke des Dharma ist nächst dem Gedanken des
Unendlichen sein Hauptakkord; Dharma ist nächst dem Geist seine
Lebensgrundlage. Es gibt keinen ethischen Gedanken, den es nicht
herausgehoben, in seine idealste und zwingendste Form gebracht
hätte, verstärkt noch durch Lehre, Anweisung, Parabel, künstlerische
Schöpfung, formende Beispiele. Wahrheit, Ehrbarkeit, Loyalität,
Treue, Mut, Keuschheit, Liebe, Duldsamkeit, Selbstaufopferung,
Arglosigkeit, Vergebung, Mitgefühl, Wohlwollen, Mildtätigkeit sind
gewöhnlich seine Themen, sind nach seiner Schau die eigentliche
Substanz eines rechten menschlichen Dharma. Der Buddhismus mit
seiner hohen und edlen Moral. Der Jainismus mit seinem hehren Ideal
der Selbstbezwingung, der Hinduismus mit seinen wunderbaren
Beispielen aller Aspekte des Dharma sind in ethischer Lehre und
Praxis keiner anderen Religion oder keinem anderen System
unterlegen, nehmen vielmehr den höchsten Rang ein und hatten die
größte Wirkkraft. Für die Übung dieser Tugenden in alten Zeiten gibt
es reiche Belege aus eigenen und fremden Quellen. Trotz vielfältiger
Degeneration bleibt noch ein beträchtlicher Einfluß davon zurück,
obgleich ein Niedergang der mehr maskulinen Qualitäten verzeichnet
wurde, die sich nur auf dem Boden der Freiheit voll entfalten. Die
Legende, daß alles sich anders verhielte, ging aus vom Denken
englischer Gelehrter mit christlichem Vorurteil, die sich irreleiten
ließen von dem Nachdruck, den indische Philosophie eher auf
Erkenntnis als auf Werke als Mittel zur Befreiung legt. Denn sie
bemerkten nicht oder begriffen nicht die Bedeutung der Regel, die
allen indischen spirituellen Suchern wohlbekannt ist, daß ein reiner
sattwischer Geist und ein rein sattwisches Leben als erster Schritt
zur göttlichen Erkenntnis vorausgesetzt werden – wer Übles tut,
findet mich nicht, sagt die Gita. Und sie vermochten nicht zu
verstehen, daß Erkenntnis der Wahrheit für indisches Denken nicht
intellektuelle Zustimmung oder Erkennung bedeutet, sondern ein neues
Bewußtsein und ein Leben entsprechend der Wahrheit des Geistes.
Sittlichkeit ist für das westliche Mental zumeist eine Frage äußeren
Verhaltens; für das indische Mental ist Verhalten nur ein Mittel zum
Ausdruck und Zeichen einer Seelenverfassung. Der Hinduismus stellt
nur beiläufig eine Anzahl von Geboten zur Befolgung zusammen, ein
Verzeichnis der Moralgesetze. Mehr noch schreibt er eine spirituelle
oder ethische Reinheit des Geistes vor, wobei Handlung ein äußerer
Index ist. Er sagt emphatisch genug, fast zu emphatisch: Du sollst
nicht töten! aber legt noch mehr Nachdruck auf die Anweisung: Du
sollst nicht hassen, du sollst nicht der Begierde, dem Ärger oder
der Bosheit nachgeben! denn sie sind die Wurzeln des Tötens. Und der
Hinduismus läßt relative Normen zu, eine Weisheit, die für die
europäische Intelligenz hoch ist. Nicht Verletzen ist sein höchstes
Gesetz, ahimsa paramo dharmah; dennoch stellt er es nicht als
physische Regel für den Krieger auf, sondern fordert von ihm
nachdrücklich Erbarmen, Ritterlichkeit, Respekt für die
Nichtkämpfenden, die Schwachen, Unbewaffneten, Besiegten, den
Gefangenen, den Verwundeten, den Flüchtling und vermeidet so den
unpraktischen Charakter einer zu absolutistischen Regel für das
gesamte Leben. Ein Mißverstehen dieser Gefühlstiefe und klugen
Relativität ist vielleicht für viele Fehldarstellungen
verantwortlich. Der westliche Ethiker liebt eine hohe Norm als
Empfehlung der Vollkommenheit und ist nicht allzu sehr betroffen,
wenn sie mehr durch Bruch als durch Beachtung geehrt wird. Die
indische Ethik stellt eine ebenso hohe und oft höhere Norm auf; da
es ihr aber weniger um hohes Bekenntnis, vielmehr um die Wahrheit
des Lebens geht, läßt sie Entwicklungsstadien zu und gibt sich in
den niederen Stadien damit zufrieden, wenn sie all jene Menschen
soweit wie möglich sittlich heben kann, die für die höchsten
ethischen Konzepte und die höchste sittliche Praxis noch nicht
bereit sind.
All diese Kritiken am
Hinduismus sind daher entweder tatsächlich falsch oder schon ihrer
Natur nach ungültig. Es bleibt zu betrachten, ob die andere, noch
weiter verbreitete Beschuldigung voll oder teilweise gerechtfertigt
ist, - jene unheilvolle Anklage, daß indische Kultur die Vitalkraft
drossele, den Willen lähme, dem menschlichen Leben keine große oder
dynamische Kraft, keinen hohen Anreiz, kein stärkendes und
erhebendes Motiv biete.
Es stellt sich uns die
Frage, ob die indische Kultur hinreichend Kraft zur Stärkung und
Veredelung unseres normalen menschlichen Daseins besitzt. Hat sie,
abgesehen von ihren transzendenten Zielen, einen pragmatischen,
nicht-asketischen, dynamischen Wert, eine Kraft zur Ausweitung und
rechten Regulierung des Lebens? Dies ist eine Frage von zentraler
Bedeutung. Denn wenn sie uns nichts dieser Art zu bieten hat, so
kann sie nicht leben, ganz gleich, worin ansonsten ihre Größe
bestehen mag. Sie wird zu einem anomalen Cis-Himalayanischen
Treibhausglanz, der in seiner Halbinsel Abgeschiedenheit bestehen
konnte, in der emsigen und eifrigen Atmosphäre des modernen
Lebenskampfes jedoch zugrunde gehen muß. Keine anti vitale Kulter
kann überleben. Eine zu intellektuelle oder zu ätherische
Zivilisation, der es an starkem vitalen Antrieb und Motiv fehlt, muß
mangels Vitalität und Lebenskraft ermatten. Wenn eine Kultur dem
Menschen dauerhaft und vollständig dienstbar sein soll, so muß sie
ihm mehr bieten als eine Art ungewöhnlichen transzendentalen
Aufstiegs zur Überwindung der irdischen Lebenswerte. Sie muß sogar
mehr tun, als bloß die lange Stabilität und das geordnete
Wohlergehen einer alten, reifen und menschlichen Gesellschaft mit
großer Wißbegierde der Erkenntnis, Wissenschaft und philosophischen
Forschung oder reichem Licht und Glanz von Kunst, Dichtung und
Architektur zu dekorieren. All dies tat die indische Kultur in der
Vergangenheit zu einem noblen Zweck. Aber sie muß auch den
Anforderungen einer progressiven Lebenskraft gerecht werden. Es muß
eine Inspiration für das irdische Streben des Menschen geben, ein
Ziel, einen Antrieb, eine Kraft zur Entwicklung und einen Willen zum
Leben. Ganz gleich, ob unser Ende Stille und Nirvana bedeutet oder
nicht, ein spirituelles Erlöschen oder einem materiellen Tod, es
steht fest daß die Welt die mächtige Anstrengung eines gewaltigen
Lebensgeistes und der Mensch die gegenwärtige fragwürdige Krone auf
Erden und der ringende,
jedoch noch erfolglose gegenwärtige Held und Protagonist in dessen
Streben oder dessen Drama ist. Eine große menschliche Kultur muß
diese Wahrheit einigermaßen vollständig sehen. |