DAS
ROTE FORT VON DELHI (INDIEN)
Je nachdem von welcher Seite man sich dem Roten Fort nähert, eröffnet sich
dem Betrachter ein anderes Bild: Von der Ring Road aus, wo noch zu Beginn
dieses Jahrhunderts der Yamuna floß, sieht man wundervolle Marmorbauten
mit Balkonen und filigranen jaali-Gitterfenstern. Von der Stadt aus
präsentiert sich das Rote Fort dagegen mit massiven roten Sandsteinmauern,
Brustwehren und den befestigten Toren Lahori und Delhi Gate. Dies
entspricht seiner Doppelfunktion als Residenzpalast und militärische
Festung – es war das administrative Zentrum, von dem aus der Kaiser
Hindustan regierte.
Der fünfte Mogulherrscher Shahjahan, der die Hauptstadt von Agra wieder
zurück nach Delhi verlegen ließ, unterteilte das Fort durch die vom
südlichen Delhi Gate zum nördlichen Salimgarh Gate verlaufende Straße in
zwei Abschnitte.
Nördlich von dieser Achse lagen die Privatgemächer, während der südliche
Teil die Amtsräume und Unterkünfte der Hofbeamten – Soldaten, maulvis
(Geistliche)., Schreiber und Hauspersonal –, die Kharkhanya-Werkstätten
zur Herstellung von Musselin und Brokat sowie die Ställe umfaßte. Nach
neunjähriger Bauzeit waren 1648 die Arbeiten an der Palastzitadelle, die
doppelt so groß war wie das Fort in Agra, abgeschlossen.
Shahjahan wollte ,,herrliche, von Licht und Wasser durchflutete Bauten mit
Blick auf den Fluß schaffen“. So legte er eine breite Marmorterrasse an
der Flußseite des Forts an und ließ darauf die Privatgemächer aus reinem
weißem Marmor mit Goldkuppeln errichten. Am nördlichen Ende befand sich
der dreistöckige, achteckige Shah Burj oder Königsturm, in dem Shahjahan
spat nachts Geheimsitzungen mit seinen Söhnen und engsten Beratern
einberief. Hinter den zerfallenen Ruinen des Turms ist das Wasserbecken zu
sehen, das den Wasserkanal Nahr-i-Bihisht oder ,,Paradiesischen Strom“
speiste, ferner die königlichen Bäder (der Öffentlichkeit nicht
zugänglich), Diwan-i-Khas, Khas Mahal und die Haremsgemächer, von denen
nur noch der Rang oder Imtiaz Mahal und Mumtaz Mahal übrig sind.
Der Kaiser erhob sich stets bei Tagesanbruch in seinem Khwabgah
(Schlafgemach) im Khas Mahal. Nach Verrichtung des Morgengebets im
angrenzenden Tasbih Khana (beide Räume sind verschlossen) ging er über den
Wasserkanal in sein privates baithak (Wohnzimmer). Über dem Kanal ist ein
von den Symbolen der Gerechtigkeit, der Sonne und dem Mond filigran
durchbrochener Wandschirm, der den Kaiser an die Symbole und Pflichten der
Mogulherrscher erinnern sollte. Dazu gehörte auch, daß er sich jeden
Morgen bei Sonnenaufgang vom Jharoka-i-Darsha, einem achteckigen Turm, der
aus dem baithak herausragte, seinem Volk zeigte, Am Ufer des unter dem
Balkon vorbeifließenden Flusses versammelten sich die Untertanen zum
darshan (Erscheinen) des Herrschers, um ihm ihre Bitten vorzutragen. Zu
späterer Stunde wurden Elefantenkämpfe veranstaltet, ein von den Moguln
heißgeliebter und grausamer Sport.
Das eleganteste Bauwerk auf der Königsterrasse nördlich des Khas Mahal ist
der Diwan-i-Khas, ein offener Marmorpavillon mit blätter umrankten Bögen,
die in Nischen münden. Der Naturliebhaber Shahjahan schuf sich hier einen
Juwelengarten, in dessen Mitte auf einem Marmorsockel der sagenumwobene
Pfauenthron im Glanz von Juwelen außerordentlicher Schönheit – Diamanten,
Smaragde, Rubine und Perlen – erstrahlte. In dieser privaten Audienzhalle
pflegte Shahjahan vertrauliche Staatsangelegenheiten zu besprechen und
ausländische Gesandte zu empfangen. Über den Eckbögen ist der berühmte
Spruch des Dichters Amir Khusrau zu lessen:
Gibt es auf Erden hier ein Paradies,
So ist es dies, so ist es dies,
so ist es dies.
Obgleich die goldene und silberne Decke 1760 von den Marathen geplündert
und die Edelsteine herausgebrochen wurden, ist der einstige Glanz selbst
heute noch zu erahnen.
Nördlich des Diwan-i-Khas führen Stufen von der Marmorterrasse zu einer
Moschee mit drei Kuppeln hinab, die gegenüber den königlichen Bädern
liegt. Die Perlenmoschee Moti Masjid wurde von Aurangzeb erbaut, der sich
im Gegensatz zu seinem Vater Shahjahan nur zu besonderen Anlässen in die
Jama Masjid begab und ansonsten seine eigene private Andachtsstätte für
das tägliche Gebet vorzog. Wie schon der poetische Name besagt, gleicht
die Moschee einer reinen, weißen Perle aus Marmor, verziert mit zarten
Blätterranken. Vor dem Diwan-i-Khas breitete sich ein großer, von
Bogengalerien umgebener Hof aus, an dessen westlichem Ende sich ein Tor,
verhängt mit einem roten Vorhang (Lal Purdah) befand. Nur der Kaiser und
seine Söhne waren befugt, diesen Vorhang zu lüften und den Harem zu
betreten. Die Wächter und der Haremsaufseher waren selbstverständlich
Eunuchen.
Der Rang oder Imtiaz Mahal, der in seiner Anlage dem Diwan-i-Khas ähnelt,
ist aus weißem Marmor und besitzt in der Mitte ein wundervolles
Wasserbassin in Form einer Lotusblüte, in dem einst ein silberner
Springbrunnen plätscherte. In den vier Ecken des Raums sind kleine
Kammern. deren Wände und Decken mit winzigen Spiegeln verkleidet sind. Sie
brachten dem Palast den Beinamen Shish Mahal ein. Shahjahan pflegte um die
Mittagszeit hierherzukommen, um mit seiner Tochter Prinzessin Jahanara
(die nach dem Tod ihrer Mutter Mumtaz Mahal an deren Stelle getreten war)
die Haremsangelegenheiten zu besprechen, das Mittagsmahl einzunehmen und
ein Nickerchen zu machen. Der ein Stück weiter südlich gelegene zweite
Palast des Serails, der Mumtaz Mahal, wurde in ein Museum umgewandelt und
zeigt Artefakte aus Mogulzeit.
Vor dem Rang Mahal war ein Garten, dessen dicke Schutzmauern den Harem von
der übrigen Palastwelt abschirmten. Am Ende des Gartens erkennt man die
Rückseite eines Gebäudes mit einer Treppe, die der Herrscher benutzte, um
seinen Thron in der Empfangshalle Diwan-i-Am zu besteigen. Der Pavillon
aus rotem Sandstein besitzt einen Marmorbalkon an der Rückwand und
berühmte Mosaike, die Vögel, Blumen und Orpheus darstellen. Die Säulen
waren einst mit glänzendem weißem Stuck überzogen und mit Blumenmustern
bemalt, heute ist nur noch der schmucklose Sandstein zu sehen. (Im
Naqqar-Khana-Tor sind noch einige bemalte Stuckdekorationen erhalten.)
Wenn man sich von den prachtvollen, in Marmor gehaltenen Privatgemächern
zu den mehr offiziellen Gebäuden begibt, weicht der Luxus einer gedämpften
Feierlichkeit.
Im Diwan-i-Am gewährte der Herrscher ,,allen Untertanen Audienz, ganz
gleich ob hoher oder niederer Herkunft“. Hier konnte der einfache Mann
hoffen, beim großen Herrscher Gehör zu finden – sobald er einmal die
schwierige bürokratische Hürde genommen hatte. Ein bis zweimal täglich
ließ sich Shahjahan auf einem seiner neun Throne nieder, um den
Staatsgeschäften nachzugehen oder finanzielle und militärische
Angelegenheiten zu regeln. Die Audienz endete stets mit eine Parade der
Kavallerie und Elefanten, bei der sich der Kaiser davon überzeugte, daß
Menschen und Tiere in guter Verfassung und jederzeit kampfbereit waren.
Auf der Marmorplattform unter dem Thron reichten die Regierungsbeamten dem
Kaiser Petitionen und Briefe hinauf.
Der Diwan-i-Am verfügte einen riesigen Hof, dessen Arkadengänge ihn mit
dem großen roten Sandsteintor Naqqar Khana verbanden. Die zeremoniellen
Trommeln (naqqars), die von den offenen Balkonen erklangen, um die Stunden
des Tages und die Ankunft oder Abreise des Kaisers zu verkünden, hatten
dem Tor diesen Namen
eingebracht. Hier mußten alle außer dem Kaiser und den Prinzen ihre Pferde
und Reitelefanten zurücklassen und zu Fuß weitergehen. Nach dem Aufstand
von 1857 besetzten die britischen Streitkräfte das Fort und machten alle
Gebäude südlich des Naqqar Khana dem Erdboden gleich, um statt dessen
Militärbaracken aufzustellen, die noch heute von der indischen Armee
genutzt werden. Nur der überdachte Basar Chatta Chowk, eine enge Gasse mit
Arkaden und einem achteckigen Hof, der zum Haupttor Lahori Gate führt,
blieb von dieser Aktion verschont. Damals versorgten die Geschäfte den
fürstlichen Haushalt, heute verkaufen sie Souvenirs wie zum Beispiel die
goldbestickten zardozi Taschen und emaillierte Kästchen.
Während des allmählichen Zerfalls des Mogulreiches unter Mohammed Shah
wurde das Fort mehrmals von den Marathen, Jats und Rohillas geplündert.
Als Bischof Heber das Fort 1823 sah, wirkte es ,,verlassen , trostlos und
verloren“, doch die herrlichen Gärten und Gebäude existierten noch. Alles,
was von den beiden großen Gärten Hayat Baksh und Mahatab Bagh am
nordöstlichen Ende nach der Verwüstung durch die Briten Überigblieb, sind
zwei Marmorpavillons mit kleinen Bogennischen, in denen man Lampen
entzündete, über denen das Wasser kaskadenartig herabfiel. In Shahjahans
Plan war eine symmetrische Anlage von miteinander verbundenen Höfen und
Arkadengängen
vorgesehen, die die königlichen Gemächer, den Diwan-i-Khas und den Harem,
umschlossen. Die Gebäude standen keineswegs so isoliert und ungeschützt da
wie heute. Auch verfügten sie über üppige Seiden und Brokattücher (die bei
Bedarf über den Bogenöffnungen herabgelassen wurden) sowie herrlich
bemalte und bestickte Baldachine und Teppiche, die die Innenhöfe
bedeckten. Wie das gemeine Volk in Hindustan pflegten sich auch die
Herrscher mehr draußen als drinnen aufzuhalten. Ihre Bauten wurden einmal
äußerst treffend als ,,zu Stein erstarrte Zeite“ beschrieben.
Nach Vollendung des Roten Forts begann Shahjahan mit dem Bau der Jama
Masjid, der Freitagsmoschee, die in keiner islamischen Stadt fehlen darf.
Eine Million Rupien war nötig, bis die Moschee 1656 auf einem Hügel vor
dem Delhi Gate fertiggestellt war. Über die Einkaufsstraße Khas Bazaar war
sie mit dem Fort verbunden. Shahjahan pflegte seinen Palast zum
Nachmittagsgebet in einem goldenen thronähnlichen howdah auf einem
Elefanten sitzend oder in seiner takhtrawan (Reisesänfte) durch das Delhi
Gate zu verlassen, jedoch niemals auf demselben Weg zurückzukehren, da
dies dem Volksglauben in Hindustan zufolge Unglück brachte. Der Blick auf
den Osteingang der Moschee und die majestätische Treppenflucht war durch
nichts getrübt, ein Vergnügen, das dem heutigen Besucher verwehrt bleibt.
Da der Königseingang inzwischen verschlossen ist, müssen Besucher mit den
Seiteneingängen, zu denen ähnliche Stufen aus rotem Sandstein führen,
vorliebnehmen. In dem ausgedehnten Innenhof steht ein marmorner
Reinigungsbrunnen für die rituelle Waschung vor dem Gebet. Die
Gleichförmigkeit der umlaufenden Galerien wird nur durch die Tore
unterbrochen. Ein auf den Innenhof hinausragender Balkon war den
weiblichen Mitgliedern der Herrscherfamilie vorbehalten. Auf der Westseite
befindet sich die nach Mekka weisende heilige Stätte, die aus einem großen
Zentralbogen besteht, an den Seiten von je fünf kleineren flankiert, die
in schlanken, eleganten Minaretten enden. Wände und Boden der
mehrschiffigen Gebetshalle sind mit Marmoreinlegearbeiten verziert. Durch
die Verwendung von schwarzem Marmor in
den
Mosaiken und den Kuppeln wird eine wirklich verblüffende Wirkung erzielt.
Shahjahan pflegte auf Seidenteppichen vor der mihrab (Gebetsnische) in der
Gebetshalle niederzuknien. Rechts sind die Marmorstufen des mimbar
(Predigtstuhl), von wo aus der Imam die Gebete spricht. Die oberste Stufe
bleibt stets frei, da sie dem Propheten geweiht ist. Auf Verlangen können
die in der Jama Masjid aufbewahrten Reliquien des Propheten,
einschließlich seiner marmornen Fußabdrücke, besichtigt werden.
Von der Spitze des Minaretts am Südtor rief der muezzin die Gläubigen von
Shahjahanabad Gebet:
La Alla illa Muhammed resul-alla.
(,,Es gibt nur einen Gott, und Moham-med ist sein Prophet.“)
Damals wie heute tönt sein Ruf von den unzähligen kleineren Gebetsstätten
der Stadt zurück. Die Moschee ist jedoch nicht nur ein Ort des Gebets,
sondern auch der gesellschaftlichen Zusammenkunft: An ihren Stufen treffen
sich die Bewohner nach dem Einkauf im Meena Basar, halten mit Freunden ein
Schwätzchen und verspeisen dabei von Straßenhändlern feilgebotene Kebabs
oder Süßigkeiten.
Diese größte Moschee Indiens, in der sich bis zu 20 000 Menschen zum Gebet
versammeln können, zeugt von vollendeter Harmonie. Trotz ihrer
eindrucksvollen Proportionen wirkt sie eher anmutig als wuchtig. Als
Symbol für die Herrschaft Gottes, der sich jeder Souverän beugen muß,
erhebt sie sich weithin sichtbar auf der Spitze des Hügels und bildet
einen wirkungsvollen Kontrast zu den hohen Zinnen des Forts. Das Rote Fort
und die jama Masjid sind jedoch nicht nur räumlich und konzeptuell
miteinander verbunden, sie sind auch integraler Bestandteil der Stadt, die
Shahjahan um sie herum anlegte. Steigt man auf die Minarette der Moschee,
eröffnet sich ein herrlicher Blick über die komplexe Anlage der
befestigten Stadt Shahjahanabad.
Heute läßt das Rote Fort nur noch den Rahmen seiner einstigen Pracht
erkennen, Der ursprüngliche Grundriß war eine streng symmetrische
Komposition aus viereckigen Höfen und Bogengalerien, die sich auch im
Stadtplan wiederfand. Vor dem Delhi Gate breitete sich der Saadullah Chowk
(Platz) aus, wo sich Tänzerinnen, Astrologen und Geschichtenerzähler
aufhielten, während das Lahori Gate sich zum großen ,,Königsplatz“
öffnete, wo die Adligen frische Luft schnappten, währensd ihre Diener
ihnen unermüdlich mit Pfauenwedeln zufächelten oder mit silbernen
Spucknäpfen neben den Sänften herliefen. Von jedem chowk führte eine
Basarstraße zum Delhi und Lahori Gate, in deren Mitte ein Kanal Wasser des
Paradiesstroms aus dem Palast führte, das Glück und Segen in die Straßen
und Basare bringen“ sollte.
Die Hauptstraße vor dem Lahori Gate besaß ein achteckiges Becken, in das
der Paradiesstrom floß. Das in dem bewegten Wasser eigentümlich
schimmernde Mondlicht brachte dem Ort den Namen Chandni Chowk,
Mondscheinplatz, ein. Gegenüber langen Prinzessin Jahanaras Garten und ihr
Sereil, deren raffinierte Schönheit Francois Bernier zu einem Vergleich
mit den Palais Royale in Paris veranlaßte. Arkadengänge mit Geschäften
säumten die beiden Hauptbasar-straßen. Dazwischen verlief kreuz und quer
ein Gewirr enger Gassen, das die Stadt in mohallas (Bezirke) unterteilte.
Jeder dieser Stadtbezirke war verschiedenen Berufen und Geschäften
vorbehalten – wie etwa den Wäschern, Lederhandwerkern, Silberschmieden
oder Köchen. Dazwischen lagen überall verstreut kleine Moscheen, madrasas
(Schulen) und havelis (Wohnhäuser).
Der Stadtplan wies eine ähnliche Symmetrie wie die Palastfestung auf: Um
die beiden zentralen Punkte, das Fort und die Jama Masjid, herum waren
große Plätze angeordnet, von denen breite Straßen abzweigten. Nach dem
Aufstand von 1857 zerstörten die Briten diese Plätze samt den umliegenden
Gebäuden. Die Expansion der Stadt über ihre ursprünglichen Grenzen hinaus
sorgte für eine weitere Verzerrung von Shahjahans Stadtbild, die bereits
unter Aurangzeb begonnen hatte. Der Chandni Chowk diente auch als
königliche Paradestraße, die in gerader Linie vom Herzen der Stadt in den
Königspalast führte, von wo aus der Herrscher wie ein gütiger Patriarch
über seine Untertanen wachte. Shahjahans Grundriß des Roten Forts und das
Konzept von Shahjahanabad stellen eine gelungene Mischung aus Ästhetik,
Zweckmäßigkeit und Symbolik dar.
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