In Indien
niemals zu Fuß gehen
Ich reise gern nach Indien. Fast ebenso gern erzähle zu Hause
Geschichten aus diesem Land, zum Beispiel die: „Nur ungern bringen
dort die Taxifahrer ihre Fahrgäste dorthin, wo sie hinwollen, und ganz
selten auf direktem Weg. Das Hotel, in das der Gast will, ist
natürlich abgebrannt oder besetzt oder gerade geschlossen oder alles
auf einmal. Aber er (der Fahrer) weiß eine gute
Alternative. Bei einer simplen Fahrt von A nach B muss er einen
kleinen Umweg machen, um seinen Bruder oder einen Cousin von C nach D
zu bringen oder für eine alte Tante etwas mitzunehmen. Unterwegs kennt
er noch einen wirklich interessanten Showroom. Man muss auch nichts
kaufen, nur gucken (meist reicht das, damit er seine Provision
bekommt). Alle Inder, die im Handel mit
Touristen tätig sind, kennen den deutschen Satz „Kucken kost nix!“
Dann fragen mich meine Freunde: „Warum fährst Du da überhaupt hin? Ich
könnte das nicht ertragen.“ Nicht selten ging es mir genauso, ich
fragte mich: Was mache ich eigentlich hier? Regte
mich über Schmutz, Gerüche und die fehlenden Regeln im
Straßenverkehr auf. Und, missionarisch, wie ich manchmal sein kann –
es ist mir ein bisschen peinlich – ich schrieb sogar einen Brief
an Sonia Gandhi, wie man in Indien dem Müllproblem Herr werden
und gleichzeitig dafür sorgen könne, das die Kinder armer Leute
regelmäßig zu Schule gingen.
Immer
wieder zog und zieht es mich nach Indien – und in der Frage, wie ich
das ertrage, liegt schon ein Teil der Antwort: Es ist eine spannende
Übung, die Kontrolle abzugeben – und sei es nur über einen kleinen
Lebensbereich. Und manchmal kann es recht entlastend sein. Das habe
ich in Indien gelernt, und zwar genau von diesen Taxifahrern.
Lange habe ich mich in meiner Lieblingsstadt Jaipur nicht
zurechtgefunden. Bei meinem fünften Besuch war ich mutig und probierte
verschieden Wege allein, zur historischen Innenstadt, zur
Post, zum Schneider. Es war sehr schwierig, diese Wege zu Fuß
zu gehen. Schon nach wenigen Schritten fuhr eine Fahrradrikscha an
meiner Seite, um mir zu einer sehr preiswerten Fahrt an jedes
beliebige Ziel zu verhelfen. Ich sagte höflich „Nein, danke!“ Der
Fahrer lächelte und sagte noch einmal, wie billig die Fahrt doch sei.
Mein nächstes „Nein“ war deutlich unwirscher. Bei der
nächsten Nachfrage erklärte ich ihm, dass ich nur zur Post
wolle, die kaum noch zweihundert Meter entfernt war. Er wich nicht von
meiner Seite. Nur weil ein anderer Fahrgast in Sicht kam, ließ
er von mir ab. Zwei Motorrikschas hupten und luden mich ein.
Ich sah einfach weg. (Kopfschütteln ist keine Lösung, hatte ich schon
schmerzlich erfahren müssen, weil das europäische Nein-Kopfschütteln
dem indischen Ja-Kopfwiegen sehr ähnlich ist). Dann kam die nächste
Fahrradrikscha an meine Seite. Dieser Fahrer versuchte mich mit
einem Scherz zu locken, den ich schon mehrere Dutzendmal gehört hatte:
„Please, come into my helicopter!“ Ich sagte, so streng und klar wie
ich konnte „Nein, danke!“ und fühlte, wie eine mittelstarke Wut sich
in mir ausbreitete. Warum kann es nicht einfach akzeptieren, dass ich
zu Fuß gehen will? Als dann der Fahrer mir
versprach, dass es auch ganz besonders billig sein würde, brach die
Wut aus und ich rief laut,er solle mich in Ruhe lassen. Der Fahrer sah
mich erstaunt an, wiegte auf seine
unnachahmlich indische Weise den Kopf und fragte mich, was denn mit
mir los sei, er habe mir doch nur einen Gefallen tun wollen, und er
sei auch wirklich ganz billig. Zum Glück standen wir inzwischen vor
dem Postamt.
Auf dem
Rückweg nahm ich das erste Taxi, das anhielt, ließ mich zu meinem
Hotel zurückfahren, um bei einem Glas Chai in Ruhe nachzudenken und
irgendwie meine Wut zu beruhigen – und meine Scham darüber, in einem
fremden Land fremde Menschen anzuschreien.
Als ich mich beruhigt hatte, überlegte ich mir folgendes: Ich bin eine
Touristin, für einfache indische Menschen wie Rikschafahrer also eine
reiche Frau. Er ist arm und will Geld verdienen, deshalb bietet er mir
seinen Dienst an. Was macht es also, mitzufahren, und sei es nur für
wenige hundert Meter und für so wenig Geld, vielleicht fünfzig Rupien
(ca. 70 Cent) vom Hotel zur Post? Also
beschloss ich, in Indien nicht mehr zu Fuß zu gehen. Oder? Mein
Spieltrieb war geweckt, ich wollte nur noch “heimlich” . Ich suchte
und fand Orte ohne Taxis, schmale Wege außerhalb der Stadt, Parks, den
Stadtbezirk der Lederarbeiter. Mein größter Triumph war der Weg vom
Fort Nahargarh herunter in die Altstadt. Ein steiler, unbefahrbarer
Serpentinenweg mit zauberhafter Aussicht auf
die ganze Stadt. Der Einstieg hatte versteckt gelegen, war mir aber
von einem kleinen Jungen gegen ein Entgelt von nur fünf Buntstifte
verraten worden. Etwa zweihundert Meter nach
dem ich die Altstadt betreten hatte, hielt eine Motorrikscha, auch
Tuctuc genannt, neben mir. Erschöpft von der Hitze, durstig und mit
zittrigen Beinen nach dem steilen Abstieg
ließ ich mich zufrieden auf das zerrissene Polster sinken und freute
mich. Hatte nicht einst ein kluger Mann gesagt: „Wir sind nicht da,
Indien zu verändern, Indien ist da, uns zu verändern:“ Ich glaube, es
war Octavio Paz, mexikanischer Literatur-Nobelpreisträger und
Diplomat, für einige Jahre Botschafter in Indien.
Angelika Rohwetter |