Wenn ich an die kleinen, großen und noch größeren Schwächen der
flügellahmen Technisierung Indiens denke, fällt mir häufig eine
Anekdote ein, die mir ein eher bedauernswertes Opfer jener Makel
erzählt hat. Er hatte wegen irgendwelcher finanzieller Schwierigkeiten
versucht, von Mahabaleshvar, einem Ort keine 200 km von Bombay
entfernt, seine Eltern in London telefonisch zu erreichen. Wenn man in
Indien telefonieren möchte, dann spricht man immer zunächst mit dem
,,Operator“, gibt die gewünschte Telefonnummer an und wartet, bis die
Verbindung hergestellt ist. Die Betonung liegt auf ,,warten“, und je
weiter die Entfernung zu dem gewünschten Gesprächspartner, desto
größer sollte in der Regel die Geduld des Anrufers sein. Der Engländer
wartete. Von Zeit zu Zeit kam ein Klingelzeichen und die Stimme der
Dame bei der Vermittlung gab zu verstehen. Daß es noch ein Weilchen
dauern könne, oder aber sie vergewisserte sich, ob sie die Nummer auch
richtig notiert habe. Ob es wahrhaftig mehrere Stunden gedauert hat
oder ob er hier ein wenig übertrieb, sicher war die Geduld des
Engländers überbeansprucht gewesen, als die Vermittlung endlich
meldete: ,,Your call, Sir!“ Es sei ein Knattern, Fauchen und
Wortgemurmel aus anderen Verbindungen gewesen, er habe sich auch die
Seele aus dem Leib schreien müssen, um überhaupt am anderen Ende
verstanden zu werden und unter verschiedenen Wortfetzen habe er
schließlich ausmachen können: ,,Hello, this is Bombay! HEH?“
Weder Orts- noch Ferngespräch, ich habe es nie selbst ausprobiert,
aber soweit ich mich erinnere, habe ich an den Telefonen dieses Landes
stets nur lauthals brüllende Inder gesehen, die zwischen periodisch
wiederkehrenden Hähs und Hallos immer wieder das wiederholten, was sie
fernmündlich übermitteln wollten. Zu jener Zeit, als der Engländer ein
Ferngespräch mit seinen Eltern zu führen suchte, gab es
durchschnittlich drei falsche Verbindungen pro Tag und Telefon. Sechs
Jahre später, 1978, war diese Zahl bereits auf sieben gestiegen.
Falsche Verbindungen jedoch, schlechte Verständigung. Unterbrechungen
des Gesprächs, Freizeichen, auch wenn man bereits wählt,
Klingelzeichen, obwohl niemand anruft, Über-Kreuz-Verbindungen, all
dies zählt zu den kleinen Übeln. Wer die Nummer 1-9-9 wählt, um die
Störungsstelle zu erreichen, wird vielleicht zum ersten Man eine
größere Überraschung erleben: hat man etwa 1-9- gewählt, ertönt ein
Bestztzeichen, das sich erst dadurch wieder abstellen läßt, daß man
den Hörer in die Gabel zurücklegt.
Angesichts der Probleme, die Indien vorrangig zu bewältigen hat,
erscheinem solche Schwierigkeiten eher nichtig. Dennoch zeigt ein
Blick hinter die Telefonmisere eine Liste von Mängeln auf, die der
Lösung so vieler Probleme im Wege stehen. Das Fehlen von Ersatzteilen
sowie Finanzschwäche sind meist nur vorgeschobene Gründe, die die
zuständige Behörde angibt. Flüchtige Beobachter machen die nicht
fachgerecht durchgeführten und obendrein überalterten Installationen
verantwortlich. Tatsächlich sind in Indien Präventivmaßnahmen
unbeliebt, und ebenso zutreffend ist, daß es sich bei den
Installateuren oft um Tagelöhner handelt, die in Ermangelung einer
geeigneten Ausbildung nicht selten beim Beheben eines Defektes die
Quelle für den nächsten schaffen. Doch liegen hier sicher nicht die
Wurzeln des Übels, dem andererseits zeigt uns eben dieses Indien, wie
gut man auf anderen Gebieten mit einfachen Mitteln improvisieren kann.
Warum nicht beim Telefon?
Heikel ist die Frage der Zuständigkeit. Der Elektriker, der im Haus
die Leitungen nach einem Defekt absucht, versichert schließlich, der
Fehler liege bei der Vermittlung. Dabei spricht aus seinen Augen
Desinteresse oder Unwissenheit und die tiefe Zufriedenheit damit, daß
er zum ,,Outdoor Staff“ gehört, der nur die Telefone und Zuleitungen
zu betreuen hat. Die Verantwortung ist damit auf den ,,Indoor staff“
übertragen. Selbstverständlich ist dieser davon überzeugt, daß beim
,,Exchange“, bei der Vermittlung, alles in Ordnung sei. Wer nun meint,
er könne sich an eine unparteiische Beschwerdestelle wenden, geht
fehl. Beschwerden über den Outdoor Staff“ nimmt der regionale
Ingenieur desselben entgegen, und nicht anders verhält es sich mit
dem, Indoor Staff“. Diese mittleren Beamten spielen sich dann
ebenfalls gegenseitig den schwarzen Peter zu, der schließlich wieder
in den Händen des Fernsprechteilnehmers landet. Es kostet diesen nun
eine Menge Überredungsgabe, Pontius und Pilatus zu einer Einigung
untereinander zu bringen.
Aber es sind nicht nur technische Mängel, die zum Ausfall von
Telefonen führen. Der Direktor einer Exportgesellschaft erhielt, so
stand in einem Zeitungsartikel, eine Vierteljahresabrechnung von über
20 000 Rs. gegenüber den üblichen 4 000 Rs. auf sein. Privattelefon.
Das Interessante an dem Vorfall ist, daß sich in den betreffenden drei
Monaten kein Familienmitglied im Haus aufgehalten hatte und die
Wohnung nachweislich verschlossen war. Als sich der Direktor weigerte
zu zahlen, schnitt man ihm das Telefon ab und drohte außerdem, mit dem
Privattelefon eines anderen Direktors derselben Company in gleicher
Weise zu verfahren. Erst ein Gerichtsentscheid brachte das staatliche
Telephon Department zur Vernunft. Doch die Fälle häufen sich, und
zumeist sind finanzschwächere Personen betroffen. In den Jahren
1976/77 brachte es das Department auf 134 176 falsch geleitete oder
überhöhte Rechnungen bei bur zwei Mio. Telefonanschlüssen im ganzen
Land. Gezählt wurden dabei nur Fälle, die zu Beschwerden geführt
haben. Die Angelegenheit wurde zu einem Politikum. Premierminister
Desai kündigte den Verantwortlichen in einer Parlamentsrede
empfindliche Strafen an und ging so weit, den Communication Minister
Herrn Verma anzuklagen. Dieser gab noch im selben Monat zu, daß solche
überhöhten Rechnungen dem Department 2,5 Mio. Rs. einbrächten. Schon
1977 hatte er öffentlich bekannt, daß dies nicht auf Fehler in der
Automatisierung, sondern auf Korruption und persönliche Interessen der
Beamten zurückzuführen sei.
Das Stichwort Korruption ist gefallen. Korrupte Beamte des Telephon
Department ermöglichen gewissen Personen gegen Zahlung von 1 000 Rs.
monatlich eine unbegrenzte Anzahl von Gesprächen (auch Ferngesprächen)
von jeglicher Dauer zum Einheitspreis von 8-10 Rs. (ein Ortsgespräch
kostet 0.50 Rs.). Die Gespräche laufen dabei über den Zähler eines
dritten Telefonbesitzers, der dann einerseits über ständige
Besetztzeichen, andererseits über erhöhte Rechnungen zu klagen hat.
Bei Beschwerden bleibt das Department taub. Keine einzige Kopie der
Statuten des Departments ist im Handel, und folglich weiß keiner der
Betroffenen über seine Rechte Bescheid. Interessant ist nebenbei, daß
in Indien die Installierung privater Einheitenzähler untersagt ist.
Die Anschlüße einflußreicher Persönlichkeiten befinden sich dagegen
stets in einwandfreiem Zustand, denn dies reduziert das Risiko, zuviel
Wirbel auf hoher politischer Ebene zu verursachen. Mehr noch wird
getan für diese Personenkreise: viele Angehörige des Parlaments etwa
werden gar nicht erst zur Kasse gebeten. Demgegenüber bezahlen andere
Teilnehmer ihre Grundgebühren auch dann, wenn das Telefon außer
Funktion ist, ja selbst, wenn das beantragte Gerät noch nicht
installiert ist.
Das Hinauszögern der Installierung ist ein weiteres Ärgernis. Das
Department fordert zunächst ein Pfand in Höhe von 5 000 Rs., ohne
dabei ein Zeitlimit zu geben, innerhalb dessen sich das beantragte
Telefon an Ort und Stelle befinden soll. Die Zinsen, die auf dieses
Pfand bezahlt werden, liegen 6% unter dem Minimum der Bankzinsen.
Daraus resultiert ein Jahresgewinn von 300 Rs. Da dieses Vorgehen
ohnehin illegal ist, wandert der Gewinn gar nicht erst in die
Staatskasse, sondern gleich in die Taschen der Beamten. Je mehr
Anträge sich stapeln, desto höher die Nebeneinkünfte der Beamten im
gehobenen Dienst.
In weiser Voraussicht war vom Staat ein sogenanntes Telephon Advisory
Committee, kurz TAC, eingerichtet worden, in dem Vertreter
öffentlicher Interessen über die Vorrangigkeit von Telefonanschlüssen
entscheiden sollten. Wege fanden sich, die Effektivität des TAC
auszuhöhlen. Zuerst wurde die Mitgliederzahl erhöht und die
neugewonnenen Sitze an Personen verteilt, die keine öffentlichen
Interessen repräsentierten. Im Zuge einer ausgeprägten
Vetternwirtschaft fanden dann immer mehr Privatpersonen Eingang in das
TAC. Dies ging schließlich so weit, daß Privatpersonen vorrangig
aufgenommen wurden und die Zusprüche eines vorgezenen Telefonschlusses
an Leute fielen, die entsprechende Finanzreserven hatten, um
Mitglieder des TAC zu bestechen. Es wurden mit Summen zwischen 5 000
Rs und 15 000 Rs. operiert, und kürzlich wurde ein TAC-Mitglied
verhaftet, dem Bestechungsgelder in Höhe von 1 Mio. Rs. nachgewiesen
werden konnten. Verglichen damit erscheinen die 20 Rs., die der
Elektriker für eine nebenberufliche Instandhaltung der Zuleitung von
seiten finanzschwächerer Fernsprechteilnehmer einkassiert, eher
armselig und ebenso die Übereinkunft, sich vor der endgültigen
Installierung des Apparates noch ,,zu einem persönlichen Gespräch mit
dem zuständigen Sahib“ einzufinden. Die schwierigste Hürde, die zu
nehmen ist, bevor man sich eines Telefons in den eigenen vier Wänden
erfreuen kann, ist nicht Zuleitung oder Anschluß, sondern der Erwerb
des Apparates selbst. Auf dem Manish Market in Bombay finden sich
unter diversen Schmuggelwaren auch Telefone ausländischen Fabrikats.
Selbstverständlich ist der Betrieb solcher Telefone illegal und ebenso
selbstverständlich zieht das Telephon Department 2 000 Rs. pro illegal
installierter Leitung ein. Bis 1973 waren schät- zungserise 2 000
solcher Verbindungen eingerichtet. Im Zuge der Razzien des Jahres 1974
fand die Polizei bei einigen Hinter-männern des Geschäftes 6 bis 8
Telefone pro ,,Haushalt“. Je skrupelloser ein Antragsteller, desto
größer seine Erfolgschance. Aussichtsreicher ist es jedoch, gar nicht
erst den Umweg über einen Antrag zu machen.
Mittlerweile haben sich die Parasiten im Gerangel um das begehrte
Objekt Telefon vermehrt. In Zeitungsanzeigen offerieren Telefonagenten
ihre Dienste. Sie versprechen die Ausschaltung jeglicher Problem mit
dem schwarzen Kasten, und zweifellos können sie ihr Versprechen
halten. Zum einen – und dies der legale Teil ihrer Aktionen –
unterrichten sie Fernsprechteilnehmer über ihre Rechte. Zum anderen
verkaufen sie ein Know-how, mit den Burschen des Telephon Department
umzugehen, und bewegen sich dabei auf nicht weniger illegalem Boden
als diese. Da berichtet ein Geschäftsmann, das Department habe ihm die
Verlegung seines Anschlusses in sein neues Büro nicht vor 11.5 Jahren
zusagen können. Er sei dann zu einem Agenten gegangen, der gegen ein
Entgeld von 1 500 Rs. die Angelegenheit binnen zwei Tagen über die
Bühne gebracht habe. Da solsche Geschäfte gewöhnlich nicht verbucht
werden, bleiben die Einnahmen zum großen Teil steuerfrei. Mit ca. 100
000 Rs. liegt das Einkommen der Agenten rund zehnmal höher als das
eines Dorfschullehrers. In den Straßen und öffentlichen Gebäuden der
6-Mio.-Stadt Bombay befinden sich keine 2500 öffentlichen
Fernsprecher, von denen wiederum nur runf 10% standig in einwandfreiem
Zustand gehalten werden. Dabei hat es sich als vorteilhafter erwiesen,
die defekten Apparate nicht mit einem Hinweis ,,Außer Betrieb“ zu
versehen. So nämlich füttert der, der auf der Suche nach einem
intakten Apparat Münze um Münze opfert, die Sparschweine des
Departments. Doch inzwischen fällt kaum mehr jemand auf die Attrappen
herein. Man benutzt die öffentlichen Fernsprecher der zweiten Linie,
die Telefone der Laden- und Restaurantbesitzer, wo gewöhnlich eine
Rupie pro Ortsgespräch verlangt wird, das sind je 50 Paisa steuerfrei
vom großen Kuchen des Telefongeschäfts. Das Finanzamt schläft darüber.
Dafür wird man dort seine ureigenen Gründe haben.
In Kürze soll in Indien auf den Selbstwähldienst umgestellt werden. Es
steht nicht zu befürchten, daß diese Maßnahme das Telephon Department
frei von Korruption machen wird. |