SHAHJAHANABAD
Shahjahanabad wird von den Delhiwalas ,,Old Delhi“ genannt, in der Amtssprache
dagegen ,,Walled City“. Beide Bezeichnungen sind
allerdings nicht ganz richtig, da es viele noch ältere Städte von Delhi gibt und
die Stadtmauer nur mehr in Bruchstücken erhalten ist. Beide schließen ferner den
Sadar-Basar mit ein, der in Wirklichkeit außerhalb der Mauern liegt.
Seit den siebziger Jahren gibt der verfall
der urbanen Struktur in der alten Mogulstadt Anlaß zur Besorgnis. Als Reaktion
darauf versucht man nun, eine generelle Verbesserung der Lebensqualität zu
erreichen, anstatt jades Gebäude einzeln zu renovieren. Wie bei Allen alten
Siedlungen sollte man sich für die Besichtigung von Shahjahanabad Zeit lassen.
Nur dann kann man seine menschliche Dimension ermessen.
Shahjahanabad liegt direkt an der Grand Trunk Road, die das Land von Lahore bis
nach Bengalen durchzieht. Reisende und Karawanen aus dem Westen betraten die
Stadt durch das Lahori Gate (von den nur der Name geblieben ist). Wer aus dem
Osten kam, mußte den Yamuna auf einer Pontonbrücke über queren oder am Fort
vorbeischippern und die Stadt durch das Kashmiri Gate im Norden betreten. Die
Tore wiesen meist in die Richtung der Städte, nach denen sie benannt waren –
Kabuli, Ajmeri, Delhi.
Als Herz eines großen Imperiums wirkte die kleine Stadt wie eine Insel in einem
grünen Meer aus Feldern und Wäldern mit einer von Minaretten durchbrochenen
Silhouette. Um 1860 baute die britische Regierung die neue Eisenbahnlinie mit
einem herausfordernd neugotischen Bahnhof mitten durch die Stadt. Der Reisende
kommt im am dichtesten bevölkerten Teil der Stadt an, von dem er bei dem Trubel
gar nichts wahrnehmen wird. Den besten Eindruck vom Umfang Shahjahanabads
bekommt man, wenn man die Bahadur Shah Marg in nördlicher Richtung fährt und
sich an der Kreu-zung am Delhi Gate rechts orientiert.
Delhi Gate ist heute eine etwas erhöhte Verkehrsinsel. Die Geschäftsstraße Asaf
Ali Road verläuft nördlich an der früheren Stadtmauer entlang, von der rechter
Hand, abgesetzt durch einen Grünstreifen, nur noch ein Teilstück zu sehen ist.
Rechts des Delhi Gate gelangt man zur Mahatma Gandhi Marg (Ring Road) und dem
Gandhi Memorial in Rajghat.
Fährt man nun links die Ring Road entlang, breitet sich die Silhouette der Stadt
vor dem Auge des Betrachters aus. Mit ein wenig Phantasie kam man sich leicht
vorstellen, wie diese Fahrt wohl früher in einem sanft schaukelnden Boot gewesen
sein muß. Wie wundervoll fügten sich damals das Fort und der Fluß zu einem
harmonischen Bild aus Rot-, Grün-und Blautönen zusammen! Welch ein Unterschied
zu dem gemaserten Sandstein, dem gelblichen Marmor und der staubigen Straße von
heute! Nachdem man einige Brücken hinter sich gelassen hat, gelangt man bei
einer Überführung links zum Interstate Bus Terminal. Früher ließen dort die
Schiffe ihre Passagiere von Bord gehen. Hier lag auch Qudsia Gardens, einer der
großen Obstgärten, die einst die befestigte Stadt umgaben. Kashmiri Gate zur
Linken bezeichnet das nördlichen Ende von Shahjahanabad. Zusammen mit Delhi Gate
im Süden bietet es den bequemsten Zugang zur Altstadt, wenngleich man die
Stadttore nicht mehr durchschreiten kann, da sie Denkmal geschützt auf einer
Verkehrsinsel thronen. Delhi und Kashmiri Gate sind heute durch eine
Nordsüdachse miteinander verbunden, die es in der ursprünglichen Stadt nicht
gab.
Wenn verstopfte Straßen Ihnen ein Greuel sind, wird Ihnen Shajahanabad unter
Umständen nicht gefallen. Falls Sie jedoch Ungezwungenheit schätzen, werden Sie
hier einen erfrischenden Gegensatz zu den Freiflächen und dem unpersönlichen
Charakter von New Delhi entdecken. Nicht nur die Baudenkmäler machen
Shahjahanabad so interessant, sondern auch seine Stadtstruktur, die ihre
ursprüngliche Form, wenngleich vom Zahn der Zeit erheblich angenagt, bewahren
konnte, In dieser mittelalterlichen Stadt werden Sie nicht nur Kairo oder
Istanbul wiedererkennen, sondern auch Chester und Heidelberg. Eine Erkundung zu
Fuß ist keineswegs abschreckend, obwohl sich eine Rikscha so manches Mal als
Wohltat erweisen kann. Autos, Busse und Motorroller haben Einzug in die Straßen
gehalten und einen Großteil der Atmosphäre zerstört. Asphalt, Kinoplakate und
Telegrafenmasten tun ein überiges. Nach den üppig grünen Bäumen, den
Wasserkanälen entlang der Hauptstraßen und dem gemächlichen Lebensrhythmus von
früher sucht man heute vergeblich.
Früher war die Stadt durch den Straßenverlauf in einzelne Bezirke unterteilt, in
denen aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen oder beruflicher Tätigkeiten ein
besonderer Nachbarschftsgeist entstand. Der nach wie vor spürbare Zauber beruht
darauf, daß Wohnungen, Läden, Restaurants und Gebetsstätten in der
Straßenlandschaft miteinander verschmelzen. Das Leben spielt sich buchstäblich
auf der Straße ab. Die Stadt reichte damals bis an den Wehrgraben des Forts
heran und erstreckte sich bis über die Stadttore hinaus. Der Aufstand von 1857
brachte einschneidende Veränderungen mit sich: Das Mogul-Fort wurde in ein
britisches Armeelager umgewandelt, die umliegenden Häuser fielen einem
Exerzierplatz Opfer, und die Touristen waren ein schwacher Ersatz für die
Aristokratie, die Handwerker und Künstler stets gefördert hatte. Neben dem neuen
Bahnhof entstand der riesige Großmarkt Sadar Basar, der Shahjahanabad den bis
heute gültigen Ruf eines Handelsumschlagplatzes einbrachte. In den kleinen
Geschäftsräumen langern erstaunliche Warenmengen, die Woche für Woche von den
Einzelhändlern weggeschafft werden.
1947 erlebte die Stadt ein weiteres Trauma, als viele Moslems nach Pakistan
abwanderten und ihre Wohnungen von den in umgekehrter Richtung fliehenden Hindus
und Sikhs besetzt wurden. Viele katras (überdachte Einkaufspassagen) wurden
zwischen mehreren Familien aufgeteilt, von denen einige ein eigenes Gewerbe
aufbauten. Heute sind hier eine unglaubliche Anzahl von Menschen sowie unzählige
Geschäfte und Werkstätten konzentriert. Doch nicht alle Bewohner sind arm, viele
haben sich wegen der Atmosphäre ganz bewußt hier niedergelassen.
Falls Sie nur begrenzte Zeit zur Verfügung haben, sollten Sie sich vor dem Roten
Fort eine Rikscha mieten und den Chandni Chowk hinunterfahren. Linker Hand
befindet sich ein perfekter Mikro-kosmos indischer Religionen: ein Hindu-Tempel,
ein Jaina-Tempel, ein Sikh Gurdwara und eine moslemische Moschee. Hinter dem
historischen Süßwarenladen Ghantewala biegen Sie links ab und schlagen die enge
Gasse des Kinari-Basars ein, in der Flitterwerk und Goldtressen ihren Glanz
verbreiten. (Die Inder haben eine Schwäche für einen Hauch Gold oder Silber auf
allen möglichen Dingen, von Saris bis hin zu Windschutzscheiben von Lastwagen.)
In der Juwelierstraße Dariba Kalan verbergen sich hinter der Ladenfront Häuser
mit kühlen, baumbeschatteten Innenhöfen, umgeben von dicken Mauern, die den
Straßenlärm fernhalten. Bleibt man nach dem Ghantewala weiter auf der Chandni
Chowk, erblickt man rechter Hand die Fassade des von den Briten erbauten Rat-hauses.
Am Ende steht die Fatehpuri Masjid aus dem 17. Jahrhundert, dahinter liegt der
verlockend duftende Gewürzmarkt Khari Baoli (,,Stufenbrunnen mit brackigem
Wasser“ – doch von einem Brunnen ist nichts zu sehen).
Der nördliche Teil Shahjahanabads jenseits der Eisenbahnlinie wirkt sehr viel
offener und trägt ,,indo-britische“ Züge. Die von Col. Skinner Anfang des 19.c
Jahrhunderts erbaute St. James’ Church weist noch Einschlaglöcher aus dem
Sepoy-Aufstand von 1857 auf. Südlich davon steht in Richtung Delhi Gate das alte
St. Stephen’s College, ein Bau im Pseudomogulstil. Links stößt man auf das
Staatsministerium für Archäologie, dessen Säulenfassade auf das frühe 19.
Jahrhundert zurückgeht, als die britische Residenz hier untergebracht war.
Ursprünglich befand sich hier die Bibliothek von Prinz Dara Shikoh, dem
gelehrten Bruder von Kaiser Aurangzeb.
Hinter dem Kashmiri Gate öffnet sich die Straße zum Interstate Bus Terminal zur
Rechten sowie zum Tilak Park und Nicholsons Friedhof zur Linken.
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