Religion
Weit davon entfernt, ein hinduistischer Monolith zu sein, ist
Indien ein Land der vielen Glaubensrichtungen, und fast jede
Religion findet man innerhalb seiner Grenzen.
Die Hindus
Ist der zinnoberrote Punkt auf der Stirn der Frauen
Kastenzeichen? Die meisten Besucher Indiens fragen sich nach
der Bedeutung des Bindi, den Hindu-Frauen als Symbol ihrer Ehe
tragen. Heute wird der Bindi als kosmetisches Accessoire von
den Jungen und Unverheirateten verwendet, doch das
Zinno-berrotpuder auf dem Scheitel unterscheidet immer noch
die Verheirateten von den Ledigen, obwohl es mehr und mehr vom
Ehering verdrängt wird. Man vergißt leicht, daß Sandelholz,
Safranpaste und Vibhuthi (Asche) aus dem heiligen Feuer (ein
wichtiges Element der Hinduzeremonien, das auf die Stirn
aufgetragen wird) das Ende der Morgen -oder Abendgebete oder
des Besuchs eines Tempels anzeigen. Horizontale oder vertikale
Streifen auf der Stirn lassen zudem auf die religiöse Sekte
des Trägers schließen.
Das Wort “Hinduismus” wurde von europäischen Reisenden und
Händlern im 16. Jahrhundert geprägt. Und obwohl sich 80
Prozent der Bevölkerung Indiens als Hindus bezeichnen, ist der
Hinduismus nicht auf die gleiche Weise eine Religion wie das
Christentum oder der Islam. Diese verkörpern einen präzisen
Glauben an Jesus, den Sohn Gottes, und an Mohammed, den
Propheten Allahs. Die Hindus glauben an eine Höchste Realität,
verehren jedoch eine Vielzahl von Göttern. Es gibt keine
göttliche Autorität, keine Absolutheiten wie gut, böse und
Sünde, keine kanonischen Gesetze oder Gebote, keine Vergeltung
oder Belohnung, keine gemeinschaftliche Anbetung, keinen
Ruhetag oder einen bestimmten Tag, der Gott gewidmet ist.
Obwohl der Glaube eine Sache persönlicher Überzeugung ist,
existieren Tempel, Rituale und Priester, da der Hindu sich
immer dann zum Tempel begibt, wenn er beten, Opfergaben
darbringen oder einfach nur Freunde sehen möchte. Tempel sind
im ländlichen Indien auch heute noch Mittelpunkt des
alltäglichen Geschehens trotz moderner Treffpunkte wie Kinos
oder Restaurants. Die Stille der ‘Frömmigkeit” ist einem Hindu
Tempel fremd; eine stetige Kakophonie aus Musik, Gesang, nach
Kindern rufenden Müttern, Waren anpreisenden Blumen -und
Weihrauch Verkäufern prägt die Szene. Die Hindus besuchen ihre
Götter, so wie sie Freunde besuchen! Priester kommen bei
Geburten, Beerdigungen, Hochzeiten und besonderen Zeremonien
zum Einsatz, da nur sie die religiösen Texte beherrschen. Doch
die meisten frommen Anlässe sind Familienangelegenheiten und
finden zu Hause statt.
Der Hinduismus läßt sich sehr schwer definieren oder erklären.
Oberflächlich betrachtet ist er eine Religion mit allen
dazugehörigen Ritualen und Zeremonien. “Als Glaube ist er
amorph, vage, vielseitig, alle Dinge für alle Menschen”
(Jawaharlal Nehru). Doch auf einer anderen Ebene ist er eine
Lebensphilosophie. Gandhi sagte, er sei die “Religion der
Wahrheit”, und fügte hinzu: “Ein Mensch mag nicht an Gott
glauben. Und sich doch als Hindu bezeichnen. “In der Bhagvad
Gita, einem für die Hindus heiligen Buch, das dem westlichen
Konzept einer Offenbarungsschrift am nächsten kommt, heißt es:
“Das Wesen einer jeden Person diktiert die Art ihrer Andacht:
Ein Mensch ist, was sein Glaube ist.” Für Nehru war der
Hinduismus “ein ethisches Konzept, das einen moralischen Kodex
einschließt… “Dharma (Pflichten und Verantwortlichkeiten)
bestimmt das ganze Leben Taten, Handlungen und die Arbeit.
Wenn ein Mensch diese “vollends” mit “seinem Sein” ausübt,
verwandelt er sie in einen “Ritus”, der wiederum zu Yajna
führt (einer Transformation des inneren Wesens) die für die
Hindus der Beginn Ist: das Gesetz hinter der Schöpfung. Der
Bhagvad Gita zufolge kommen wir alle mit einer persönlichen
Last von Pflichten auf die Welt, die ohne Hoffnung auf
Belohnung ausgeführt werden müssen, denn dies ist unser Karma
(das Gesetz von Ursache und Wirkung, das oft als Schicksal
interpretiert wird). Doch diesem Schicksal wohnt nichts
Unausweichliches oder Fatalistisches inne, denn die Hindus
glauben, daß jeder Mensch mit sieben Wahlmöglichkeiten geboren
wird, sieben Momenten in seinem Leben, in denen sich sein
Karma verändern kann.
Der Glaube an die Wiedergeburt ist ein fundamentaler Aspekt
des Hinduismus, “denn der Tod ist sich dessen sicher, “was
geboren wird, und des Toten ist sich die Geburt sicher”. Es
liegt eine
Bejahung des Lebens in diesem Gedanken, ein Ansporn zur
Vitalität und der Freude am Leben, ohne sich unnötig über das
Ende zu sorgen, denn das Selbst ist ewig. Der offensichtlich
unvermeidbare Zyklus der Wiedergeburten kann auch gestoppt
werden, und Moksha (Erlösung) ist durch “Loslösung, Disziplin,
Begierdelosigkeit, Entsagung… “zu erreichen, welche die wahre
Freiheit darstellen. Es mag zahllose Geburten und
Wiedergeburten brauchen, um Nirvana (Glückseligkeit, das
Einssein mit Brahma, der höchsten Realität) zu erreichen. Dies
gelingt nur sehr wenigen Menschen. Der Mehrheit ist es
möglich, eine höhere Stellung im nächsten Leben zu erhalten
und das Schicksal durch Erfüllung des Dharma zu verändern. Und
Himmel und Hölle kann man sich selbst wählen, da sie in diesem
Leben existieren. Der Hindu fürchtet keinen obersten Richter –
er hat sich nur sich selbst gegenüber zu verantworten.
Götter & Göttinnen
Die Mythen und Legenden der Hindus und die bildliche Kunst der
Tempel machen die Essenz hinduistischer Philosophie dem
Ungebildeten zugänglicher. Die Götter und Göttinnen des
Hindu-Pantheons sind sehr menschlich: Krischna stahl Butter
aus der Speisekammer seiner Mutter und flirtete mit den Gopis
(Kuhhirtinnen), Schiwa und Parvati stritten sich ständig,
Durga und
Ganesch werden in den Heimen ganz Indiens aufgenommen, wenn
sie alljährlich vom Kailash (dem hinduistischen Olymp)
herabsteigen, und Wischnu wird in menschlichen wie tierischen
Formen immer wiedergeboren. Ihre lehrsamen Lebensgeschichten
und Taten werden von fahrenden Sängern erzählt, im Tanz
verkörpert sowie mittels der Ikonographie an Tempeln und
Höhlenheiligtümern dargestellt.
Die wichtigeren Götter und Göttinnen sind leicht zu erkennen:
Brahma, der Schöpfer, hat vier Köpfe und vier Hände. Er ist
allsehend und allwissend. In jeder seiner vier Hände halt er
einen Löffel, einen Topf Weihwasser, einen Rosenkranz und die
Veden (das Buch des unendlichen Wissens). Brahma wird meist
auf einem Lotus sitzend dargestellt, dem Symbol ewigen
Friedens. Er wird selten verehrt, und der Tempel von Pushkar
in Rajasthan ist eines der wenigen ihm geweihten Heiligtümer.
Obwohl er der Schöpfer ist, wurde er aus Kailash vertrieben,
weil er sich in seine eigene Tochter verliebt hatte. Brahmas
Frau Saraswati, die oft auf dem Schwan Hamsa sitzt und eine
Veena hält (ein Saiteninstrument), kommt mehr Bedeutung zu.
Sie ist die Göttin der Wissenschaften, der bildenden Künste
und des Intellekts. Die Götter werden mit der weiblichen Kraft
Shakti assoziiert, ohne die das Männliche als unvollständig
gilt.
Auf seinem Vahana (Fahrzeug) sitzt der mythologische Vogel
Garuda, und auf der Schlange Ananta Nag schläft Wischnu, der
Erhalter und Vermittler zwischen dem Höchsten Wesen und dessen
Schöpfungen, denn er ist der mitfühlende. Er kehrt in
verschiedenen Formen auf die Erde zurück. “um das
Gleichgewicht wiederherzustellen”. Wischnu ist der Gott, von
dem die zehn Avataren (Reinkarnationen) stammen: Matsya, der
Fisch; Kurma, die Schildkröte; Varaha, der keiler, der die
Göttin Erde vor der Sintflut rettete; und Narasimha, der
Löwenmensch, der Hiranyakashipu besiegte, einen gämonischen
Gott, der so mächtig war, daß er die Götter aus ihrer
himmlischen Heimat verbannte. Wischnu ist Vamana, der Zwerg,
der die unermeßliche Größe der Götter Mahabali offenbarte, dem
Herrscher der drei Welten, der schnell zu einer Bedrohung für
die Götter wurde. Doch in seinem Mitgefühl gab Wischnu
Mahabali das Reich der Unterwelt und die zwei anderen Welten
den Göttern zurück, Wischnu ist auch Parasuram. Der Held, der
die Brahmanen von der Verfolgung durch die Kshatriyas
befreite.
Die siebten und achten Avataren sind vielleicht die
bekanntesten. Rama kam zu einer Zeit, da Ordnung,
Gerechtigkeit und Moral einen Tiefstand erreicht hatten und
Ravana, der König von Lanka, drohte, die Welt zu zerstören.
Seine Geschichte erzählt das große Epos Ramayana. Rama wird
Pfeil und Bogen tragend dargestellt und ist meist in
Begleitung seines Bruders Lakshman und
seiner Frau Sita, Inbegriffindischer Weiblichkeit. Der achte
Avatar ist Krischna, die charmanteste und menschlichste von
Wischnus Reinkarnationen: ein in einen Kuhhirten verwandelter
Prinz. Lrischna sieht man als Steinskulptur oder auf Papier,
Seide oder Palastmauern in einer Vielfalt von Situationen
abgebildet: als Kind mit einer Portion Butter in der rechten
Hand; als jungen Mann, den Schlangenkönig im Gewässer von
Yamuna entwaffnend; Kuhhirten terrorisierend; auf Mount
Govardhan, die Bewohner von Vrindavan vor dem Zorn Indras, des
Regengottes, beschützend und eine Gefahr nach der anderen
abwehrend. Er tanzt mit Gopis (Kuhhirtinnen), stiehlt ihre
Kleidung, während sie baden, und hat immer seine Flöte bei
sich. Er ist Krischna, der die Weisheit der Bhagvad Gita am
Vorabens der Schlacht von Mahabharata Arjun offenbart; er ist
Wischnu, der sagt: “Und jades Zeitalter ist Zeuge meiner
Genurt; ich komme, um das Gute zu beschützen und das Böse zu
zerstören.”
Der neunte Avatar soll Gautama Buddha sein, dessen Worte eine
Ära des Konfliktes in ein Zeitalter des Friedens verwandelten.
Und es wird eine zehnte Inkarnation geben, Kalki, einen
Krieger auf einem weißen Pferd, der die Kräfte des Bösen
zerstören und uns eine neue Welt bringen wird. Wischnus Gattin
ist Lakshmi, die Göttin der Anmut und der Schönheit. Auch sie
nimmt verschiedene Formen an, und wann immer Wischnu
wiedergeboren wird, ist sie an seiner Seite.
Der dritte Gott der hinduistischen Trinität ist Schiwa oder
Mahadeva, der größte aller Götter. Er repräsentiert die
gewaltigen Energien des Universums und die Naturkräfte der
Erneuerung. Schiwa ist der Zerstörer, und er kann auch
wiederauferstehen lassen. Er gilt häufig als Schöpfer, da sein
Kult mit der Fruchtbarkeit assoziiert wird und sein Symbol ein
stilisierter Phallus ist. Bronzestatuen und Steinskulpturen
stellen ihn dar: etwa auf Nandi, dem Stier sitzend und als
Nataraja, den kosmischen Tänzer, der die Dynamik des
schöpfenden Aktes und die Zerstörung des dämonischen Chaos
symbolisiert. Schiwa hat verschiedene Arme, und in seinen
Händen schwingt er Waffen, das Feuer der Zerstörung eine
Trompetenschnecke, eine kleine Trommel, die das Alphabet
darstellt, sowie ein Rad oder eine Scheibe, die den Zyklus von
Geburt, Tod und Reinkarnation repräsentiert.
Schiwas Gattin ist Parvati, die Tochter des Himalaja, die
Göttin der Liebe, der Schönheit und der Hingabe. Sie ist die
oberste Mutter. Doch Parvati ist auch Kali die Schwarze, ein
Messer in einer Hand, die auf einem Löwen reitet und eine
Halskette aus abgeschlagenen Köpfen trägt. Diese stellen
menschliche Eigenheiten dar: schlechte Taten, Schwächen und
Laster. Sie wird mit Blutopfergaben verehrt, doch wenn man
genau hinschaut, sieht man, daß eine ihrer Hände zum Segnen
erhoben ist und eine andere zum Schutz. Parvati ist ebenso
Durga, die Unbesiegbare, auf einem Tiger sitzend oder
Mahishura tötend, den dämonischen Stier. Die Waffen, die sie
in jeder ihrer zehn Hände hält, symbolisieren den Schutz vor
dem Bösen. Parvati ist weiter Uma, die Ergebene, Bhairavi, die
Mächtige, Ambika, die Mutter, Sati, die perfekte Gattin, und
Gauri, die Intellektuelle und Philosophin. Parvati und Schiwa
sind eins oder jeweils eine Hälfte des anderen und werden als
Ardhanareshwaram dargestellt, als der Gott, dessen andere
Hälfte eine Frau ist.
Brahma, Schiwa und Wischnu sind die drei Aspekte des einen
Gottes, des Höchsten Wesens. Die Reinkarnationen von Wischnu,
Lakshmi und Parvati sind Facetten einer einzigen Perfektion,
denn zusammengenommen besitzen sie alle Kräfte und Tugenden
des Guten.
Und dann gibt es die Tiere – der Stier, die Schlange, der Pfau
– und die Götter in Tierform: Ganesch, der spitzbäuchige Gott
mit dem Elefantenkopf, der von einer Ratte und Hanuman
getragen wird, dem Affengott, dessen Affenarmee Rama dabei
half, im Ramayana Ravana zu besiegen. Tiere spielen eine Rolle
im Zyklus der Geburten und Tode, denn die Hindus glauben, daß
nach dem Gesetz des Karma ein Mensch als Tier wiedergeboren
werden kann und umgekehrt ein Tier als Mensch.
Es existiert eine Vielzahl anderer Götter: Indra, der Gott des
Regens, Agni, das Feuer, Surya, die Sonne, Kama, Indiens
Cupido, Kartikeya, der Gott des Krieges und Jagannath, der
Gott des Universums. Es gibt Flußgöttinnen, Tiere, die mit
Weisheit ausgestattet sind, und heilige Bäume. Sie sind alle
Ausdruck eines Lebensraums, einer Umgebung, die von den alten
Indern (meist Bauern) respektiert und geschützt wurde, da ihr
Leben davon abhing. Indiens “heilige Kuh” hat auch mit diesem
Respekt für die Natur und ihre Gaben zu tun. Die Kuh war der
wertvollste Besitz der Bauern. Sie lieferte Milch, Butter,
Käse und Quark und somit Nahrung für die ganze Familie –
besonders dann, wenn die Männer in den Krieg zogen.
Getrocknete Kuhfladen werden in den Dörfern immer noch als
Brennmittel verwendet. Mit Wasser und Stroh vermischt,
bedecken sie Böden und Wände, um das Heim sauber und
insektenfrei zu halten.
Shruti
Die Legende von der Menschlichkeit eines Heiligen
Yajnavalkya lag im Schatten des mächtigen Banyan der auch das
Wasser im einzigen Brunnen des Dorfes vor den Sonnenstrahlen
schützte. Er liebte es nicht sonderlich, wenn andere Menschen
sich zu ihm gesellten und ihn durch ihr Geplapper in seiner
Mittagsruhe störten. Besonders haßte er es, wenn Kinder
herbeikamen und ihn, den Kavi, neckten. Und natürlich wußte er
auch, was die Erwachsenen über ihn dachten und was sie
sprachen, wenn er nicht zugegen war. So redeten sie über ihn,
wie über all die anderen Kavis, die Brahmanen. Daß sie die
Arbeit scheuten, daß sie hochnäsig seien, ja, einige wagten
sogar zu behaupten, daß sie die Worte des Veda allzu oft zu
ihren Gunsten auslegten. Yajnavalkya haßte die Nichtswürdigen.
Sein einziger Trost war, daß sich im Denken des Volkes
durchzusetzen begann, was er für die oberste und heiligste
Aussage des Veda hielt: der Mund des Purusha wurde zum
Brahmana, die Arme zum Kshatriya, aus den Schenkeln wuchs der
Vaishya und der Shudra aus den Füßen. Freilich war diese
Feststellung so noch nicht vollkommen. Das Volk verstand noch
nicht ihre tiefere Bedeutung, denn man begnügte sich damit,
die Herkunft der Menschen aus den jeweiligen Körperteilen
Purushas nur mit deren Fähigkeiten in Verbindung zu bringen:
der Shudra, der flink auf seinen Füßen war, schien bestens
geeignet für Botendienste, der Vaishya, der mit kräftigen
Schenkeln in die Ackererde trat, konnte doch nur Bauer sein,
und wer eignete sich besser zum Soldaten und Befehlshaber als
der Kshatriya mit seinen starken Armen? Der Brahmana
schließlich, der von alledem nichts verstand, der aber
wortgewandt war, er sollte die Opfersprüche im Gedächtnis
behalten und die Götter preisen. Damit war nun keinesfalls
gesagt, daß nicht auch der Sohn des Shudra zum Brahmana werden
konnte, sofern er nur die Opferriten vollziehen konnte. Für
Yajnavalkya dagegen hatte das Vedawort einen viel höheren,
einen symbolischen Wert. Was bedeuteten ihm die Füße, die
durch den Staub liefen, die Schenkel, die sich herabließen,
wollüstig ein Weib zu umklammern, oder gar die Arme, die
töteten? Rein war für ihn allein der Mund, waren er und alle
die, die gleich ihm die heiligen Sprüche zu rezitieren
vermochten.
Die Menschen jener Zeit machten sich von ihren Göttern kein
Bild. Sie begriffen die Naturgewalten, die sie täglich vor
Augen hatten, den Wind, den Wind, den Regen, das Feuer, als
personifizierte Gottheit mit eigenem, vernunft- und
moralbestimmtem Denken und Handeln. Aber sie liebten es, ihre
Dichter, die Brahmanen, von den Göttern reden zu hören, von
deren großen Taten und allge waltiger Macht. Diesen Göttern
brachten sie Opfer dar, nicht weil sie sie fürchteten, sondern
weil sie von ihnen eine Gegenleistung erwarteten. ,,Du,
Brahmane, ich brauche eine Kuh. Morgen komme ich zu Dir und
wir bringen Indra ein Opfer. “Yajnavalkya verabscheute solche
Reden, und noch weniger konnte er ertragen, daß dieses naive
Pack in ihm nicht mehr als einen Mittler sah. Sein Verhältnis
zum Göttlichen war gänzlich anderer Natur. Er verehrte das
Wort, die Sprüche des Veda, die die Grundlage der
Opferhandlungen bildeten. Kult und Kosmos standen für ihn in
unterennbarer Beziehung, und wenn er das Opfer richtig
vollzog, so mußten die Götter ihm gehorchen. Damit war er der
eigentliche Gott, der die Macht in Händen hielt, ein Gott in
menschengestalt. Und mit ihm waren es die anderen Brahmanen.
Wie der Mund nicht die Füße berühren soll, so geziemte es sich
für den Gott nicht, den Shudra zu berühren. Was der Shudra
beschmutzt hatte oder der Vaishya oder der Kshatriya, das war
für den Brahmanen verdorben. So jedenfalls dachte Yajnavalkya.
Es gab nun ein Zauberwort, dessen Faszination jeder erlegen
war. Jeder, der dümmste Shudra wie der klügste Brahmana.
Shruti hieß dieses Wort. Shruti war ,,das Hören“ und der
Beweis für die Richtigkeit der Aussagen des Veda. Die Rishis,
die heiligen Seher, hatten die Wahrheit von den Göttern selbst
vernommen und den Menschen im Wort überliefert. Daß sogar
Yajnavalkya, der ein arges Schlitzohr war und alles zu seinem
eigenen Vorteil auszulegen verstand, nicht auf die Idee kam,
die Rishis könnten ebensolche argen Schlitzohren wie er
gewesen sein, das mag für die Macht des Wortes ,,Shruti“
stehen. Aber er war doch immerhin klug genug zu sehen, daß
sich das Zauberwort dazu eignete, seine Geschicke in die von
ihm gewünschten Bahnen zu lenken. Es lebte noch ein anderer
Brahmane in dem Dorf, Uddalaka. Uddalaka war fett und behäbig,
und man sagte ihm nach, daß er dem berauschenden Soma nicht
nur bei den heiligen Riten zusprach. Yajnavalkya hatte sich
oft gewundert, wie Uddalaka überhaupt die Gedichte des Veda im
Gedächtnis behalten konnte, wo er doch sonst strohdumm war.
Häufig versetzte diese Dummheit dem Gedankengebäude des
Yajnavalkya einen so heftigen Stoß, daß es in seinen
Grundfesten erschüttert wurde. Dann sah er seinen Freund von
der Seite an und dachte bei sich, daß es wohl auch
schwerfällige Götter geben müsse. Trotzdem war Uddalaka der
einzige Mensch, mit dem zu reden er liebte, denn er war
ebenfalls Brahmane. Wie er so unter dem Banyan lag, kam
Uddalaka daher und hockte sich an seine Seite. ,,Sag, Uddalaka,
findest Du nicht auch, daß dieser Baum nur uns beiden gehören
müßte, damit wir hier ungestört ausruhen können, wann immer
wir wollen? “Yajnavalkya kannte die Schwächen seines Freundes
nur zu gut. Das war so recht nach dessen Geschmack, ein unter
dem er träge vor sich hinschlummern durfte, ohne von den
Kindern mit albernen Fragen belästigt zu werden. ,,Das finde
ich auch“, antwortete er also, ohne dabei die Möglichkeit in
Betracht zu ziehen, diesen Baum tatsächlich in Beschlag zu
nehmen. ,,Und meinst Du nicht auch, daß wir damit das
Besitzrecht haben müßten auf das Wasser, das vom Schatten
dieses Baumes gekühlt wird?“ ,,Das wäre logisch“, kam die
Antwort Uddalakas. Ob es nun wirklich logisch war oder nicht,
darüber wollte er im Augenblick nicht nachdenken. Wenn sein
Freund es sagte, so würde es wohl stimmen. ,,Recht hast Du!“
Indem Yajnavalkya so sprach, gab er dem behäbigen Uddalaka das
Gefühl, es wären seine Gedanken, die da verhandelt wurden, und
gleichzeitig schmeichelte er ihm.
Uddalaka war nun, das wußte Yajnavalkya, offen für das, was
folgen sollte. ,,Es ist auch nicht recht, daß einer seine Füße
im Trinkwasser des anderen wäscht. Und eben das bedeutet es
für uns, wenn ein Shudra aus diesem Brunnen schöpft. “Uddalaka
nickte zustimmend, obwohl er die Zusammenhänge schon nicht
mehr begriff. Was um alles in der Welt hatte nun dieser Banyan
mit den Füßen eines Shudra zu schaffen? Mehr noch als diese
Frage beschäftigte ihn ein Fliegenpaar, das derweil um seine
Nase tänzelte. Yajnavalkya wußte, daß er jetzt nicht nachgeben
durfte, sonst würde der träge Kumpan dieses Gespräch schon am
nächsten Tag vergessen haben. ,,Weißt Du, Dein Sohn macht mir
manchmal Sorgen. “Hier war Uddalakas wundester Punkt
getroffen, und augenblicklich vergaß er die Fliegen und die
Füße und den Banyan. Sein Sohn nämlich hatte alle schlechten
Eigenschaften des Vaters geerbt und war darüber hinaus nicht
einmal in der Lage, sich zwei Zahlen auf einmal zu merken, um
so weniger die Gedichte des Veda. Man durfte ihn mit Fug und
Recht einen Blödian nennen, ohne sich dabei Gewissensbisse
machen zu müssen. Was sollte aus ihm werden? Zum Krieger oder
Bauern war er zu schwach, und zu dumm war er gar für die
einfachsten Dienste. Schickte man ihn Wasser holen, so hatte
er bestimmt unterwegs den Krug zerbrochen und darüber
vergessen, was er eigentlich sollte. Aber Uddalaka mochte es
nicht, daß jemand schlecht über seinen Sohn sprach. Bevor er
sich jedoch ereifern konnte, fuhr Yajnavalkya fort: ,,Wenn nun
Dir dieser Baum gehören würde, so würdest Du ihn doch sicher
Deinem Sohn vererben und dieses Wasser ebenso, oder?“ Sicher
würde er das, so war es Recht. ,,Und wenn Du Brahmane bist und
Dein Leben lang die Opferriten vollziehst und schließlich
stirbst, läge es dann nicht nahe, Deinem Sohn Deine Würde zu
übertragen?“ Eigentlich nicht, dachte Uddalaka bei sich, wo
mein Sohn doch kaum einen Wasserbüffel von einer Milchkuh
unterscheiden kann, aber so, wie Yajnavalkya es jetzt sagt,
klingt es doch ganz vernünftig. ,,Ja, so wäre es“, gab er ohne
hörbaren Nachdruck zurück. ,,Aber was werden die Leute sagen?
Ich meine, mein Sohn ist vielleicht nicht der Richtig für
dieses Amt.“
Yajnavalkya war nun genau dort angelangt, wo er hinwollte,
Auch er war überzeugt, daß Uddalakas Sohn ein Trottel war,
aber doch immerhin der Sohn eines Brahmanen, eines Gottes in
Menschengestalt, dem Ehre gebührt und vor dem sich nach seiner
Auffassung die niederen Varnas zu verneigen hatten. Wenn es
ihm jetzt gelang, Uddalaka davon zu überzeugen, daß dies der
Wille der Götter sei, dann würde es ihm auch gelingen, den
anderen Menschen seinen Glauben einzuprägen, dessen war er
sich gewiß. Und so brachte er in seine Rede die Waffe, gegen
die auch er machtlos gewesen wäre, hätte er nicht gewußt, daß
sie an dieser Stelle seiner eigenen Phantasie entsprungen war.
,,Shruti!“ sagte er. ,,Ich habe es vernommen. Ich habe
vernommen, daß wir Brahmanen die oberste, gottgleiche Varna
sind. Ich habe vernommen, daß sich unsere Würde auf unsere
Söhne und Töchter vererben soll. Ich habe vernommen, daß es
auf Ewigkeit so sein wird; daß wir zu verehren sind und mit
uns das von uns gesprochene Wort.“
Hätte Uddalaka Augen gehabt für die Wirklichkeit, hätte er
gespürt, wie lächerlich der unter dem Baum ruhende Freund mit
seiner pathetischen Rede wirkte, er hätte am folgenden Tag
alles vergessen gehabt und dem mißratenen Sohn die Ohren
langgezogen, bis dieser begriffen hätte, was er im Leben zu
leisten habe.Aber das Wort hatte ihn in seinen Bann gezogen.
Ehrfurchtsvoll blickte er auf Yajnavalkya. ,,So bist Du ein
Rishi!“
Yajnavalkya hatte sein Ziel erreicht. Er hatte Uddalaka, dem
er immer noch mehr Intelligenz zutraute als den anderen
Dorfbewohnern, überzeugt, daß es ein von den Göttern gewolltes
Ordnungsprinzip gab, das die Brahmanen an die Spitze der
Menschheit stellte. Daß er dabei Uddalakas Vorteil, der sich
aus diesem Gefüge ergab, ins Feld führte, hatte keinen anderen
Grund, als ins aus seinem trägen Halbschlaf herauszureißen.
Für den Erfolg seiner Rede war entscheidend, daß er das
Zauberwort nannte. Und dieses Wort würde auch die anderen
beschwören. Shruti: die Götter wollen die Kasten.
Das Kastenwesen in Vergangenheit & Heute
Weder in der Induskultur noch bei dem arischen Nomadenvolk
kann eine Klassengesellschaft nachgewiesen werden. Erst als
beide Völker aufeinandertrafen, zeigten sich mit der von den
Ariern angestrebten Rassentrennung erste Ansätze jenes
Systems, das später einer der wichtigsten Bestandteile des
Hinduismus wurde. Mit dem weiteren Vordringen der Arier
bildete sich ein Kriegerstand heraus, dann eine
Priesterschaft, die über das heilige Wissen und die
Kulthandlungen wachte. Jedem Arier stand der Zugang zu einem
der drei Stände, also zu den Bauern und Hirten (Vaishyas), den
Kriegern (Kshatriyas) und den Priestern (Brahmanas), offen
doch war natürlich der Beruf des Sohnes durch den des Vaters
zumeist vorausbestimmt. Die Ureinwohner blieben von dieser
Ständeordnung ausgeschlossen. Man betrachtete sie als Diener (Shudras).
Zu diesen rechnete man ferner auch Mischlinge oder degradierte
Arier. Weiterhin gab es Unberührbare (Parias), das waren vor
allen Eingeborenstämme, auf die die Arier erst in späteren
Jahren stießen und die sie gar nicht mehr in ihr
Gesellschaftssystem einbezogen, das nunmehr vier Varnas
(,,Hautfarben“), also Priester, Krieger, Bauern und Diener,
umfaßte. Der Begriff Varna zeigt schon an, daß im Laufe der
Zeit die beiden einst getrennt von einander aufgetretenen
Klassifizierungssysteme (zum einen nach dem Beruf, zum anderen
nach der Rasse) zu einem einzigen zusammengelaufen waren: die
Geburt bestimmte den Beruf und damit auch das Ansehen und die
Macht des Einzelnen.An der Spitze der Gesellschft standen die
Brahmanen, die sich bei der Rechtfertigung ihrer Position wie
auch der gesamten Ordnung auf die heiligen Schriften beriefen.
Jeder Varna obliegen bestimmte Pflichten, die sehr genau im
sogenannten ,,Gesetzbuch des Namu“, einem etwa um die
Zeitenwende abgeschlossenen Sammelsurium von
Verhaltensmaßregeln, dargestellt sind. Wer gegen diese Gesetze
verstößt, der hat nicht allein eine Bestrafung durch die
höheren Kasten zu fürchten, sondern in schweren Fällen auch
damit zu rechnen, aus der eigenen Varna ausgestoßen zu werden.
Darüber hinaus wird er Vergeltung in seinem nächsten Leben
erhalten. Wer dagegen seine Pflichten erfüllt, für den wird
die eigene Varna in allen Notfällen sorgen, und er wird in
seiner nächsten Existenz belohnt werden. So erklärt sich,
warum nur selten Kritik am Kastenwesen laut wurde und warum
die in unseren Augen entwürdigenden Pflichten von der
niedrigen Varna so sklavische befolgt werden. Trotz aller
Vorschriften konnte eine Vermischung der Rassen nicht
ausgeschlossen werden. So bildeten sich innerhalb der vier
Varnas die verschiedensten Untergruppen, die Jatis, die heute
an die 3000 zählen. Je tiefer der Rang der Varna, desto mehr
Untergruppen zählt sie. Es ist nun durchaus nicht so, daß in
jedem Dorf, ja nicht einmal in jedem Bundesland alle 3000
Jatis auftreten. Die meisten von ihnen sind eng auf ein Gebiet
begrenzt. Eine eindeutig Rangfolge kann daher nicht
aufgestellt werden.
Der hohe Machtanspruch der Brahmanen, der sich aus ihrem
influß auf das Opfer und damit auf die Götter ergab, wurde eit
etwa dem 8. Jhdt.v.Chr. von den obersten der Kshatriyas, also
von Adeligen, immer häufiger in Zweifel gezogen. Buddhas Lehre
(6.Jhdt.v.Chr.) lehnt gar das gesamte Kastenwesen ab, doch
war, als der Buddhismus unter Ashoka zur Staatsreligion wurde,
das Kastenwesen schon so tief im Volk verankert, daß der
Buddhismus dieses Gesellschaftssystem übernahm. Mit dem
Ausklingen des Buddhismus im 5. Jhdt.n.Chr. suchten die
Brahmanen ihre Vormacht wiederherzustellen, doch scheiterten
ihre Bemühungen. Die Brahmanen behielten hohes Ansehen, aber
die Macht lag in Händen von König und Adel.
Die Toleranz, von der im Zusammenhang mit dem Hinduismus oft
die Rede ist, ist ein Trugschluß. Es trifft zwar zu, daß
Hindus – abgesehen von den geschäftstüchtigen Gurus der
Neuzeit – niemals als eifrige Missionare aufgetreten sind,
doch liegt dies vor allem daran, daß ihnen jeder Nichthindu
als Unberührbarer gilt, der, wenn er nur seinen Schatten auf
ein Haus wirft, dieses verunreinigt. Folglich ergaben sich mit
dem Auftreten des Islam und später des Christentums in Indien
große Spannungen. Die fremden Machthaber in Delhi, dann auch
in Bombay und Calcutta fanden sich stets in der Rolle einer
verachteten Minderheit. Übertritte zum Islam und Christentum
kamen verständlicherweise fast nur bei den unteren Jatis und
den Parias vor. Andererseits entwickelten beide Religionen auf
indischem Boden ihrerseits Ansätze zum Kastenwesen. Die
fortgesetzten Kontakte mit den islamischen und christlichen
Kolonialherren mußten jedoch zumindest auch Änderungen in
Bezug auf das mit dem Kastenwesen verknüpfte Ritual
herbeiführen. So war es etwa dem indischen Diener nicht
möglich, sich nach jedem Kontakt mit seinem britischen ,,Paria“-Herr
rituell durch ein Bad zu reinigen. Vor allem im vergangenen
Jahrhundert fehlt es nicht an grotesken Szenen, die sich aus
dieser für die Hindus prekären Lage ergaben.
In Mahatma Gandhi fanden die Parias, die längst schon unter
einander Kastenabstufungen gebildet hatten, einen Fürsprecher.
Er lehnte die Unberührbarkeit ab, war jedoch nicht gegen eine
Kastenabstufung, da er erkannte, daß die Aufhebung des
Kastenwesens einer Auflösung des Hinduismus gleichkäme. So war
natürlich fraglich, wo die Hari jans (,,Kinder Gottes“), wie
Gandhi die Parias nannte, im Kastensystem einzuordnen seien,
wenn nicht am unteren Ende, was wiederum gleichbedeutend mit
dem Status quo war. Das unabhängige Indien suchte diese Frage
zu lösen, indem es den sogenannten ,,Schedulded Castes and
Tribes“ eine bestimmte Anzahl von Arbeitsstellen zuerkannte,
die ihnen einen finanziellen und gesellschaftlichen Aufschwung
verschaffen sollten. Dies setzt voraus, daß das Kastenwesen –
zumindest in den Städten – als eine von der Klassengesellschft
abgelöste, archaische Institution zu betrachten ist.
Tatsächlich aber durchdringen heute beide Gesellschaftssysteme
einander, was an nachfolgendem Zeitungsausschnitt deutlich
gemacht werden soll.
Die Kaste, das verderbliche Erbe von Pritpal Singh Sandhu aus
,,The Hindustan Times“ vom 3. Feb. 1980, Es ist ein Erbe der
Hindu-Religion, abgesegnet durch ,,Manu Smriti“ (Gesetzbuch
des Manu), daß sich das Kastensystem zu solchen Ausmaßen
entwickelt hat, daß den sogenannten ,,Shudras“ sogar der
Zugang zu den Häusern und Tempeln der wohlhabenden indischen
Familien verweigert wurde. So tief war die Würde dieser
schuftenden Massen gesunken, daß sogar eine versehenfliche
Berührung eines von ihnen nach ,,Hawan“, ,,Puja“ oder anderen
Reinigungsritualen der Oberschicht Snobs verlangte. Und genau
die Leute, die seit Anbeginn der Zivilisation geschuftet
hatten, sahen sich nun als Unberührbare klassifiziert. (Der
Verfasser verwechselt Shudras mit Parias. In indischen Städten
geraten die korrekten Bezeichnungen mehr und mehr in
Vergessenheit).
Gandhi, in Anerkennung ihrer Dienste und Leiden, nannte sie
Harijans – Kinder Gottes – da sie jahrhundertelang anderen
Menschen so selbstlos gedient hatten.
Um die uralte unterdrückung wiedergutzumachen, willigte unsere
Verfassunggebende Versammlung ein, daß ein bestimmter
Prozentsatz von Posten und Diensten für die Schedulded Castes
and Tribes reserviert werde, legte aber für die Reservierung
eine Zeitspanne von nur zehn Jahren fest. Kastentum und
verbriefte Interessen sind jedoch so tief verwurzelt, daß in
den ersten zehn Jahren wenig erreicht wurde, und das Parlament
mußte diese Vorschrift zweimal verlängern. Wenn das Parlament
im Januar 1980 zusammenkommt, wird es der Angelegenheit erneut
gegenüberstehen.
Der zu berücksichtigende Punkt ist, warum die Anhebung der
Harijans noch nicht erreicht wurde und wo die Hinderungsgründe
liegen.
Es ist wohlbekannt, daß sich die Bedingungen für Harijans seit
den Tagen vor der Unabhängigkeit wenig geändert haben; ja, die
Unterdrückung hat sogar zugenommen und es werden immer noch
Grausamkeiten an ihnen verübt. Ihr einziger Trost ist das
Lippenbenkenntnis der Demagogenpolitiker, die um Wählerstimmen
kämpfen.
Haben unsere Politiker den Grund für das Scheitern ihrer
Vereinbarungen gefunden? Selbst wenn, so scheint doch
politische Bedachtsamkeit ihre Weisheit eher zu lenken als die
Interessen der Nation. Wie dem auch sei, die Mängel bei der
Umsetzung jener Vorschrift in die Praxis liegen offen.
Unmittelbar nach der Unabhängigkeit bedienten sich diejenigen
Schedulded Castes-Familien, die bereits über eine bessere
Ausbildung verfügten, des reservierten Quoten-Systems und
profitierten in reichlichem Maße davon. Sobald sie aber von
ihrer Chance Gebrauch gemacht hatten, wurden sie selbst zu
einer privilegierten Klasse und verfügten schließlich samt
Kind und Kegel über 90% der Arbeitsreservierungsquoten.
Während ihre Söhne und Töchter IAS-und Class I-Beamte
(mittlere bis hohe Beamtenränge in Indien) wurde, blieb die
Masse der Harijan-Gemeinschaft, auf dem Lande und sogar in den
Städten, völlig unberührt. Infolgedessen erwies sich die
Hilfe, die in der Verfassung vorgesehen war, in Bezug auf die
ursprünglich angestrebte Angleichung als ineffektiv.
Die jenigen der Schedulded Castes, die dadurch begünstigt
wurden, daß sie im Regierungsdienst in die übergeordneten
Class III-, Class II- und Class I-Positionen gelangten, haben
sich eine soziale und finanzielle Stellung gesichert, die es
ihren Kindern gestattet, eine gute Ausbildung zu bekommen, ins
Ausland zu gehen und Zutritt zu allen Privilegien moderner
Lebensweise zu erlangen. Sie befinden sich damit natürlich in
einer weit besseren Position als die Kinder der Harijans in
ländlichen Regionen, die mit einem Existenzminimum leben,
versunken in Unwissenheit und Rüchständigkeit. In gewisser
Weise hat es diese Elite der Harijan-Gesellschaft–was die
wirtschaftlichen Bedingungen der Familie und den Zutritt zum
modernen Leben anbelangt sogar besser als einige der
sogenannten Oberschicht. Das Gemeinschaftsgefühl der
Hindu-Familie bricht unter den Spannungen und der Last der
Moderne schnell auseinander. Die wirtschaftlich rückständigen
Glieder der oberen Kasten bekommen nur mehr wenig
Unterstützung von ihren wohlhabenden Verwandten, und es gibt
in dieser ,,Oberschicht“ keine Gemeinschaft und keinen
Kastenschutz mehr wie in früheren Tagen. Darum ist es in
Wirklichkeit die wirtschaftliche Rückständigkeit und nicht die
Kaste, die das Kriterium für eine Arbeitsplatz-Reservierung
sein sollte.
Ist es nicht Heuchelei höchsten Grades, wenn der Sohn oder die
Tochter eines Unionsministers, der zwei Jahrzehnte und mehr im
Amt gewesen ist, Anspruch auf hohe Regierungsämter oder einen
Platz in der Medizinischen Hochschule allein auf der Grundlage
der Zugehörigkeit zu einer Schedulded Caste erhebt und so die
Türen vor der wahren Schedulded Caste unserer Zeit
verschließt? Die blinde und gedankenlose Anwendung der gut
gemeinten Verfassungsbeschlüsse verewigt die Beamtung
nichtbedürftiger Kandidaten und setzt die Rechte aller zurück,
die Anerkennung verdienen und die der Eckpfeiler jeder
Gesellschaft sind, der die Bezeichnung ,,Gesellschaft“
gebührt.
Ein weiterer unerwünschter Effekt der Gesetzesauflage war die
Verhärtung des Kastensystems. Die Etablierung von Harijan
Kolonien hat eine striktere Isolation für diese Leute bewirkt
und entfernt sie weiter vom Kern der Nation. Ferner führte die
gedankenlose Anwendung dieser Verfassungsvorschrift dazu, daß
es eine elitistische Gruppe (der Harijans) vorzog, sich noch
mehr von anderen Schedulded Castes zu distanzieren, als dies
von den oberen Kasten praktiziert wurde. Diese Gruppe ist zu
einer überprivilegierten und exklusiven Gesellschaft geworden.
Von den Sozialwissenschaften wurde einwandfrei nachgewiesen,
daß jegliche Rückständigkeit, die Staatliche Deckung genießt,
zur Verewigung neigt. Wenn demnach diese Protektion nicht
Schritt für Schritt abgebaut wird, die Nutznießer nicht
gezwungen werden, sich um Unabhängigkeit und Streben nach
herausragenden Leistungen zu bemühen, dann wird die
Lebensfähigkeit der hanzen Nation ernsthaft bedroht sein.
Verdienste allein können letztlich die Nation stärken und sie
zu einer lebensfähigen Einheit im Zusammenleben der Nationen
machen.
Früher gab es für die Schedulded Castes and Tribes nur
Reservierungen im Anfangsstadium, also für die Beamtung
selbst. Später bestimmte die Regierung auch Reservierungen bei
Beförderungen um den geforderten Prozentsatz aufrechterhalten
zu können, und erachtete damit solche Beförderungen
unkorrekterweise als anfängliche Anstellung. Dies hat der
Verwaltungsmaschinerie großen Schaden zugefügt, da viele
nichtbedürftige Schedulded Caste-Kandidaten über Nacht in
höhere Positionen kletterten, für die sie weder die Fähigkeit
noch die notwendige Erfahtung besaßen. Abgesehen davon, daß
ihre Inkompetenz sich auf die Effektivität der Verwaltung
auswirkt, hat diese auch Neid bei anderen Beschäftigten
ausgelöst. Sie wurden ihrer Beförderung in jene Ränge beraubt,
die ihnen nach Dienstalter und Erfahrungen, die sie durch den
Einsatz von Jahren harter Arbeit erworben hatten, zustanden.
Dies hat eine zersetzende Gleichgültigkeit in allen
Diensträngen her vorgerufen, die sich allmählich in die
Effektivität des Systems hineinfrißt. An diesem entscheidenden
Zeitpunkt unserer Geschichte stellt die Rettung unserer Nation
vor der Degenerierung menschlicher Werte ein ernstes Problem
und eine Heraus forderung dar.
Es ist unerläßlich, daß sich unser oberstes Organ – das
Parlament – ein aufrichtiges, wohl erwogenes und pragmatisches
Bild des gesamten Entwurfes macht, wenn es das Gesetz des
Reservierungssystems 1980 erläßt. Folgende Anregungen werden
zur Berichtigung der maßgebenden Nachteile aufgeboten.
Reservierungen für die Schedulded Castes and Tribes sollten
mit sofortiger Wirkung von 25 (mittlerweile fast 50%) auf 15%
reduziert werden, und das auch nur für die anfänglichen
Stadien des Beschäftigungs verhältnisses. Bei Beförderungen in
ausgewählte Ränge sollten keine Reservierungen vorgenommen
werden. Schedulded Castes-Angestellte müssen eine Beförderung
wie jeder andere durch harte Arbeit und den Erwerb notwendiger
Fähigkeiten erlangen.
Die Familien aller Schedulded Castes-Angestellten, die bereits
in einen der amtlich bekanntgegebenen Bundes- oder Landes
regierungsränge aufgenommen wurden, sowie Class III-Beamte,
die in der Gehaltsgruppe von Grundgehalt und dar über
gearbeitet haben, sollten hinsichtlich der Reservierung von
der Klassifikation als Schedulded Castes and Tribes
ausgenommen werden.
Ebenso sollten alle Politiker, die den Status von MLAs , MPs (Member
of Parliament) oder Ministern mehr als fünf Jahre lang
genossen haben, der Klassifikation als Schedulded Castes and
Tribes enthoben werden.
Zehn Prozent der Posten in Regierungsdiensten, öffentlichen
Vorhaben und auch der Reservierungen in bundesstaatlichen
Institutionen sollten nur auf der Basis von wirtschaftlicher
Rückständigkeit zugesprochen werden und allen Kasten
offenstehen.
Um die Abschwächung des Kastensystems zu fördern und es
schließlich zur ,,Nichtangelegenheit“ (non issue = nicht mehr
existierender, nicht mehr relevanter Programmpunkt. zu machen,
sollte zu Eheschließungen zwischen den Kasten ermutigt werden
und es sollten all diesen jungen Paaren Gehälter für eine
Periode von fünf Jahren zuerkannt werden, als Kompensierung
der Unannehmlichkeiten, die ihnen durch rigide, kastenbewußte
Familien dafür aufgebürdet werden, daß sie sich außerhalb
ihrer Kaste verheiratet haben.
Um Verdienststreben zu fördern, ist es entscheidend, daß alle
nationalen Stipendien auf zentraler und bundesstaatlicher
Ebene lediglich aufgrund von Leistungen, ohne Rücksicht auf
den finanziellen Status der Eltern der Studenten, vergeben
werden.
Es könnte davon getrennte Stipendien, Gehälter und Zuschüsse
ausschließlich für die Schedulded Castes und die wirt
schaftlich rückständigen Klassen geben.
Den Reisenden interessiert zumeist, woran er nun die einzelnen
Kasten erkennen kann. Dies ist aus mehreren Gründen sehr
schwer zu beantworten. Zunächst gibt es ja in Indien, wie
bereits gesagt, ca. 3000 Jatis (das Wort ,,Kaste“ haben erst
die Portugiesen im 15. Jhdt. eingeführt), von denen die
meisten nur regional auftreten. Im engen Kreis des Dorfes, wo
jeder jeden kennt, ist eine besondere Kennzeichnung der Jatis
nicht not-wendig. Dei Überschaubarkeit führte dazu, daß die
jeder Jati zugeordneten Rechte und Pflichten sehr viel
gewissenhafter eingehalten wurden und werden als in Städten,
wo sich im übrigen auch der Einfluß von Seiten der Briten
starker bemerkbar machte. Dort wo die Vorschriften eingehalten
werden, kann der Eingeweihte von Gepflogenheiten eines jeden
Hindus auf dessen Jati schließen. Dem Laien wird dieser Schluß
nicht allein durch die hohe Zahl der Jatis erschwert,Sondern
auch durch den Umstand, daß sich viele Lastenvorschriften
regional sehr verschieden ausbildeten, so daß etwa ein Wäscher
in Karnataka andere Pflichten zu erfüllen hat als einer in
Bihar. Auch Inder auf Reisen werden sich in einem fremden
Bundesstaat hier und da nach der Jati ihres Gesprächspartners
erkundigen. Bildung war lange Zeit ein Kriterium für die
Herkunft. Schließlich konnten und durften einst nur die
Brahmanen die heiligen Texte lesen, und den Parias war
jeglicher Schulbesuch untersagt. Heute verwischen die Grenzen,
denn zum einem ist jedem der Schulbesuch gestattet, zum
anderen bedeutet Bildung nicht mehr das Wissen um den Inhalt
der Veden. Wohlstand zeigte nie eindeutig die Kaste an. So gab
es stets völlig verarmte Brahmanen oder auch sehr reiche
Vaishyas (z.B. Händler). Auch Shudras und selbst Parias
konnten zu einem gewissen Wohlstand gelangen. Die
Identifizierung einer Jati wird weiter dadurch erschwert, daß
heute das Kastenwesen von Indern in sehr unterschiedlichem
Maße anerkannt, bzw. daß es gar geleugnet wird. Die Skala
reicht vom orthodoxen Brahmanen bis hin zu jenen, die sich
einer Kaste gar nicht mehr bewußt sind oder sein wollen, womit
sie im übrigen auch gleichzeitig ihre durch die
Kastenzugehörigkeit garantierte soziale Sicherheit aufgeben.
Als eindeutige Kastenerkennungsmale bleiben die heilige Schnur
der oberen Varnas (Sakramente) und der Familienname (sehr
typisch etwa der Name Singh für einen Kshatriya, aber auch für
einen Sikh). Auch die Anzahl der Stockwerke eines Wohnhauses
kann über die Varna seines Besitzers Auskunft geben (von vier
für Brahmanen zu einem des Shudra). In Nordindien ist häufig
die Hautfarbe gleichbedeutend mit der Kaste, denn bei
Dunkelhäutigen handelt es sich oft um Nachfahren der
Ureinwohner und damit um Shudras oder um Parias.
Wenn wir hier so ausführlich auf Erkennungsmerkmale einge hen,
so geschieht dies, weil bei jedem Reisenden durch die
Berührung mit der fremden Kultur, also auch mit Kastenregeln,
Neugier geweckt wird, die es um des Verständnisses Willen zu
befriedigen gilt. Wer erkennt, mit wem er zu tun hat, der wird
auch eher dessen Verhalten verstehen.
Neue Religionen
Im 6. Jahrhundert v. Chr. kamen zwei neue Religionen in Indien
auf: der Buddhismus und der Jainismus. Die Sikh-Religion
gesellte sich sehr viel später, im 16. Jahrhundert, hinzu.
Alle drei sind Abweichungen von der alten vedischen Religion
Hinduismus; sie traten zu einer Zeit in Erscheinung, da der
philosophische Inhalt des Hinduismus gegenüber Zeremonien und
Ritualen in der Hintergrund trat. Die Brahmanen hatten
jahrhundertelang sowohl die politische als auch die geistige
Macht innegehabt, und es lag in ihrem Interesse, die Menschen
ungebildet zu halten. Rassentrennung und Diskriminierung
hatten das Kastensystem unterhöhlt. Die Ideale des Dharma und
Karma wurden vom Hokuspokus des Aberglaubens ersetzt.
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